Das Kind ist einfach zu faul!
Erziehung von Kindern mit Behinderung oder chronischer Krankheit
„Der Jung‘ ist einfach zu faul zum Laufen!“, „Die Kleine hat Euch aber ganz schön im Griff, dass sie sich immer noch füttern lässt!“ – solche und ähnliche Kommentare bekommen viele Eltern behinderter Kinder zu hören. Manche sind einfach genervt davon. Andere sind verunsichert: Ist da wirklich was dran?
Das Problem in der Erziehung behinderter Kinder besteht darin, dass viele ihrer Beeinträchtigungen unsichtbar sind. Gerade bei den Chromosomen-Anomalien haben wir es mit komplexen Störungen des Stoff-Wechsels zu tun, die für Außenstehende nicht leicht nachzuvollziehen sind.
Unser Körper ist ein Wunderwerk. Botenstoffe greifen ineinander, die in verschiedenen Organen produziert werden. Kleine Kraftwerke in den Zellen – Mitochondrien – stellen Energie für alle Handlungen zur Verfügung. Das Gehirn funktioniert durch eine Mischung aus biochemischen Transmittern und elektrischen Impulsen, die wie Zauberei aufeinander abgestimmt sind.
Wenn wir mal ehrlich sind: Auch für uns selbst, Fachpersonen und sogar Ärzte ist es schwierig zu verstehen – wie sollen es da die Oma, die Nachbarin, die Erzieherin oder die Schulbegleiterin begreifen?
Leben mit einem Körper der anders funktioniert
Dazu kommt: Gesunde Menschen können einfach nicht nachvollziehen, wie es ist, einen eingeschränkten Körper zu haben und wie viel es einem abverlangt das zu kompensieren.
Neurodiverse Menschen – z.b. Autistinnen, Hochsensible Personen oder Menschen mit Down-Syndrom- sind tagtäglich damit beschäftigt eine Unmenge von Reizen zu verarbeiten, die sie nicht filtern können! In meinem Artikel „Willkommen in Tokio“ beschreibe ich das Phänomen als kleine Geschichte. Die Quint-Essenz aber ist: Wenn täglich mehr Reize und Informationen auf einen einströmen, dann geht im Laufe des Tages eine Unmenge an Energie verloren. Klar, dass man dann bei der Physio am Nachmittag nicht mehr voller Engagement mitmacht oder am Abend wegen Kleinigkeiten anfängt „bockig“ zu werden.
Hypotone Menschen (auch hier z.B. wieder Kinder mit DS) benötigen sehr viel mehr Energie für jede Bewegung. Wenn Dein Kind mit Hypotonie einen Kilometer läuft, ist das, als wenn ein gleichaltriges gesundes Kind zwei oder mehr Kilometer läuft. Klar, dass Dein Kind vielleicht noch bis zum Spielplatz läuft – aber dann keine Energie mehr zum Schaukeln, Wippen und Toben hat. Oder nach dem Spielplatz-Besuch fix und fertig „auf den Arm“ oder „in den Buggy“ will. Das hat nichts mit Faulheit zu tun!
Und wenn die Mitochondrien eine Dysfunktion haben, dann steht dem ganzen Organismus eben generell weniger Energie zur Verfügung.
Unfaire Maßstäbe vermeiden
„Aber er kann doch schon laufen!“ beklagt sich die Erzieherin. „ „Sie muss sich halt ein bisschen bemühen!“ findet die Oma! Das Kind kann sich einfach nicht konzentrieren!“ diagnostiziert die Ergotherapeutin.
Und diese Eindrücke sind verständlich. Aber es sind MOMENTAUFNAHMEN.
Das zentrale Stichwort bei Kindern mit Beeinträchtigungen ist die „Tagesform“. Natürlich bekommt eine Therapeutin, die am Nachmittag mit unserem Kind arbeitet, einen völlig anderen Eindruck von ihm als die Erzieherin, die das Kind morgens erlebt.
Und natürlich kann Dein Kind beim Frühstück und Mittagessen in der Einrichtung „auf wundersame Weise“ konzentrierter und selbständiger essen, als wenn es am Abend nach einem langen Tag von Mama gefüttert werden will. Das hat (in den allermeisten Fällen) nichts mit „Verwöhnen“, „Faulheit“ oder „auf der Nase herumtanzen“ zu tun. Auch nicht damit, ob Dein Kind den einen oder anderen lieber mag oder die eine oder andere Person kompetenter oder „strenger“ ist.
Es hat etwas damit zu tun, wie gut der Körper Deines Kindes JETZT GERADE funktioniert und wie viel Dein Kind im Laufe des Tages oder der Woche bereits geleistet hat.
Unsichtbare Beeinträchtigungen überwinden kostet Kraft
Wenn ich mit meinen 130 kg Lebendgewicht einen Zumba-Stunde durchstehe, dann habe ich die DOPPELTE Leistung erbracht wie eine 75-kg-Frau.
Wenn ein Dreijähriger mit Hypotonie eine Mahlzeit selbständig ist, hat er dieselbe Leistung gebracht wie ein gesunder Dreijähriger, der zwei Mahlzeiten selbständig bewältigt.
Und wenn ein Kind mit Autismus einen halben Schultag ohne Auffälligkeiten durchhält, braucht es dafür mehr Energie und Konzentration als ein Regel-Kind, das sich den ganzen Vormittag vernünftig verhält.
Wer unter Depressionen leidet, mal einen Burn-Out hatte, den Zustand nach einer schweren Grippe oder Covid noch vor Augen hat, der kann sich vielleicht ein bisschen hineinversetzen in ein Leben in dem es schon schwer ist sich daran zu erinnern, wo man das Handy hingelegt hat oder vom Sofa aufzustehen um zum Klo zu gehen.
„Es ist, als ob Du Berührungen durch einen Neopren-Anzug einordnen musst, Deine Körpergrenzen sich wie eine Wattewolke anfühlen oder als ob Du auf einem Planeten mit höherer Schwerkraft lebst.“ erklärte Logopädin Denise Hönninger der Schwester meiner Tochter mit Down-Syndrom, warum Finja alles soooo viel schwerer fällt, warum sie langsamer lernt und warum manches an diesem Tag besser und an jenem schlechter gelingt. Diese Erklärung hat meine damals 10jährige sehr beeindruckt und ihr das Verhalten der Schwester verständlich gemacht. (Seminare mit Denise findet ihr hier.)
Beeinträchtigte Kinder fair bewerten und angemessen begleiten
Was sind nun die Konsequenzen aus diesen Überlegungen?
1. Wir dürfen uns bewusst machen, dass unsere Kinder viele unsichtbare Behinderungen kompensieren müssen. Dazu gehören ein veränderter Stoff-Wechsel, Hypotonien, Neurodiversität. Aber auch Veränderungen im Gehirn, ein eingeschränkter Energie-Haushalt und Defizite bei den Inneren und Äußeren Sinnen. Wenn ein Kind nicht optimal sieht, Probleme mit dem Gleichgewicht hat, seine Muskelspannung nicht gut kontrollieren kann – dann muss es viel Energie aufwenden, um das zu kompensieren. Stunde für Stunde, Tag für Tag, Woche für Woche.
2. Wir dürfen und bewusst machen, dass Außenstehende – auch wir – niemals begreifen werden, wie es sich ANFÜHLT diese Behinderung zu haben. Wir wissen nicht, wie es ist, in einem Körper zu leben, der ANDERS funktioniert als das Normal-Modell. Das heißt nicht, dass wir unsere Kinder nicht fordern und ermutigen sollen. Aber es heißt, dass wir nur begrenzt verstehen können, wie es unseren Kindern damit geht. Und deswegen sollten wir niemals vorschnell urteilen.
3. Wir dürfen uns bewusst machen, dass unsichtbare Veränderungen für die Umgebung nicht wahrnehmbar sind. Daher müssen wir Erzieherinnen, Therapeutinnen, Gutachterinnen immer wieder erklären, warum Kooperationsfähigkeit, Energie und auch „bereits erworbene Kompetenzen“ nichts mit „gutem Willen“ oder „Bemühen“ zu tun haben, sondern schlicht damit, wie sehr die Belastbarkeit unseres Kindes bereits in Anspruch genommen wurde.
4. Wir dürfen akzeptieren, dass Hilfsmittel und Hilfestellungen manchmal benötigt werden und manchmal nicht. Es ist okay den Buggy zu benutzen, um den Spielplatz zu erreichen, damit unsere Kind nicht dort schon zu müde zum Spielen ist. Es ist okay beim Frühstück vom Kind zu erwarten, dass es selbständig ißt, aber beim Abendessen zu füttern. Es ist okay geräuschreduzierende Ohrstecker zu benutzen, wenn man in der Schule ist, obwohl man zu Hause keine benötigt.
5. Wir dürfen als Eltern, PädagogInnen, ErzieherInnen und Assistenzen zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Dinge von behinderten Kindern erwarten. Dabei muss uns bewusst sein, dass Körper, Geist und Psyche beeinträchtigter Kinder anders funktionieren als bei Regel-Kindern. Dass möglicherweise häufigere oder längere Pausen und Auszeiten nötig sind. Dass wir die Belastungen aufmerksamer dosieren müssen – ohne den Kindern alles abzunehmen. Aber dass es auch Zeiten gibt, in denen wir von den Kindern MEHR erwarten können, als üblicherweise.
6. Wir dürfen als Fördernde, Therapierende und Erziehende die Herausforderungen, Ziele und Übungen sorgfältiger planen als bei Regel-Kindern. Uns muss bewusst sein, dass oft mehr Motivation, positive Verstärkung und Hilfestellung nötig ist um die Freude am Lernen zu erhalten. Und dass wir uns bewusst sein müssen in welchem Zeitfenster und auf welchem Energie-Niveau sich das jeweilige Kind gerade befindet.
7. Wir dürfen uns bewusst sein, wie verlockend es für unsere Kinder ist andere „übernehmen“ zu lassen. Es ist keine Faulheit oder böse Absicht, wenn sie das selbständige Handeln verweigern und stattdessen auf die Hilfestellung von einem Erwachsenen / nicht Behinderten warten. Sie sind oft in dem Moment wirklich übermüdet oder überfordert.
ABER: Wir dürfen auch genau hinschauen, ob es wirklich gerade unzumutbar ist, oder ob sich hier eine Gewohnheit anbahnt. Manchmal ist es besser, wenn die Kinder eine Pause bekommen, um es danach selbst zu tun, statt dass der Erwachsene das Kind komplett füttert, trägt oder eine Aufgabe an Stelle des Kindes übernimmt. Oder wir vereinbaren, dass das Kind noch bis zur nächsten Laterne selbst läuft und dann in den Bollerwagen einsteigen darf, dass wir die Aufgabe gemeinsam erledigen oder das Kind die Hauptspeise gefüttert bekommt, aber den Nachtisch selbst ißt.
8. Wir dürfen die Leistungen unserer Kinder feiern. Und uns dabei bewusst sein, dass alles, was sie schaffen, nur die sichtbare Spitze eines Eisberges ist. Denn jede sichtbare Leistung setzt auch eine unsichtbare Kompensations-Leistung im Körper voraus, die wir mit-feiern dürfen. Sei stolz auf Dein Kind! Denn in jedem Entwicklungs-Schritt steckt doppelt so viel Energie wie bei einem Regel-Kind.
„Faul“ beim Essen, Sprechen oder in der Therapie?
In den Seminaren der Special-Needs-Academy behalten wir genau diese Punkte immer im Blick, die allzu oft übersehen werden. Denise Hönninger, unsere Referentin für „Brennpunkt Therapie“ , „Sprachentwicklung und Kommunikation“ und „Diagnose Dyspraxie“ bezieht genau diese unsichtbaren Behinderungen immer wieder in der Beratung von Eltern, KollegInnen und Fachpersonen ein.
Yvonne Dingers Seminare „Natürliche Trinknahrung und ausgewogene B(r)eikost“ richtet sich u.a. an die Eltern der Kinder, die durch ihre Behinderungen eine verzögerte Entwicklung beim Essenlernen haben.
In meinen Einzel-Coachings und in meinem Intensiv-Kurs haben wir die besonderen pädagogischen Herausforderungen im Blick, die durch diese unsichtbaren Behinderungen für uns und unsere Kinder entstehen.
Wenn ihr nicht sicher seid, was ihr wirklich von Eurem Kind erwarten dürft und wie ihr mit herausforderndem Verhalten umgeht oder wenn ihr grübelt, wie ihr diese Problematik der Familie, den ErzieherInnen, GutachterInnen oder anderen Fachpersonen vermitteln könnt, dann schaut Euch die Kurse in der Special-Needs-Academy oder mein Coaching-Angebot an.
Wir helfen Euch sehr, sehr gern!
Liebe Marion, danke von Herzen für diesen Artikel! Es ist immer wieder erstaunlich, wie gut Du den RICHTIGEN Ton und die genau richtige Balance findest Dinge auszudrücken. Danke dafür.
Obwohl meine Tochter (mit Trisomie 21) in diesem Jahr 10 Jahre alt wird, muss auch ich mir nicht selten diese Selbstverständlichkeiten vor Augen halten, um ihr adäquat zu begegnen. Und nicht zuletzt, um die immer neuen Personen, die ihre Entourage bilden, entsprechend zu schulen.