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Vertrauensvolle Aufmerksamkeit – Aufmerksames Vertrauen

Vertrauensvolle Aufmerksamkeit – Aufmerksames Vertrauen

Vom Schutz vor sexuellen Übergriffen, psychischem Missbrauch und dem Leben mit der Angst …

Natürlich haben wir alle Angst davor, dass unsere Kinder Missbrauch oder Misshandlung erleben.

Viele Familien, die ich begleite, machen sich beim Auszug ihrer Kinder Sorgen: Kann ein Mann meine behinderte Tochter pflegen? Wie werden weibliche Pflegekräfte mit der Intimpflege meines erwachsenen Sohnes mit Behinderung umgehen?

Aber die Ängste beginnen schon früher. Spätestens wenn wir unser Kind, das sich vielleicht nur schlecht oder gar nicht verbal ausdrücken kann, in den Kindergarten geben grübeln wir: Würde ich eine psychische Misshandlung bemerken? Wird man wertschätzend und professionell mit dem Wickeln eines Kindes jenseits des Säuglingsalters umgehen? Kann ich es zulassen, dass ein Mann meine Tochter, eine Erzieherin meinen Sohn beim Toilettengang unterstützt?

Als Mutter kann ich diese Ängste nachvollziehen. Ich habe sie auch. Und Skandale und Statistiken fördern unser Unbehagen – oft bis hin zur Panik, wenn wir daran denken unsere geliebten Kinder in fremde Hände zu geben.

Aber wie gehen wir sinnvoll damit um? Wie kann man mit dieser Angst leben? Lasst uns das Problem aus verschiedenen Perspektiven beleuchten:

Männer und Frauen in Pflege, Betreuung und Assistenz …  

Erlaubt mir einen Ausflug in meine eigene Berufsbiographie:
Ich habe selbst als junge Frau während meines Sozialen Jahres in einem Wohn- und Pflegeheim gearbeitet. Wir hatten 2 männliche Bewohner und 12 weibliche auf der Station. Im Team waren 2-3 männliche Pflegekräfte – der Rest waren weibliche Mitarbeiterinnen.

Aus diesem praktischen Jahr in der Pflege ist mir eine Erkenntnis geblieben: Es ist eigentlich völlig egal welches Geschlecht der oder die Pflegende hat. Ob die Pflege angenehm, professionell und wertschätzend abläuft hängt vom Charakter und der professionellen Grundhaltung des Pflegenden einerseits UND dem Charakter und der Einstellung des Pflegling ab. Vor allem aber: Von der Chemie und der Beziehung, die beide zueinander haben.

Ja – Missbrauch und Misshandlung können vorkommen. Aber die Idee, dass hauptsächlich pflegende Männer pflegebedürftige Frauen misshandeln ist zu einseitig gedacht.  Es gibt auch unter den Frauen grobe Personen, die im Laufe der Jahre abgestumpft und möglicherweise bitter geworden sind. Und genauso Männer. Und es gibt Menschen, die die Intimität dieser Situation ausnutzen – Männer und Frauen gleichermaßen.

Zwischen dem Recht auf Lösung vom Elternhaus und den Gefahren der Welt

Viele Eltern fragen mich: „Marion – ich weiß, dass mein Kind ein Recht auf Selbständigkeit hat. Ich weiß, dass es in den Kindergarten, die Schule, die HPT, ein Internat, eine Wohngruppe oder eine Einrichtung gehen sollte. Ich weiß, dass ich mein Kind nicht immer beschützen und im Elternhaus halten kann. Ich weiß das alles – aber wie kann ich es loslassen? Wie kann ich mit dem Wissen um die Gefahren der Welt, wie kann ich mit dem Wissen um die Risiken leben?“

Ich kann nachfühlen, wie unendlich schwer es ist. Aber ich sage: Hab‘ Vertrauen in das Team und die Personen, die Dein Kind pflegen. Ja – es gibt diese Übergriffe. Ja – das KANN jederzeit passieren. Aber ihr habt die Pflegenden, die Erzieher*innen und Betreuenden kennengelernt.

Und: Ihr kennt Euer Kind. Und wenn ihr sensibel für dieses Thema seid, dann habt ihr eine große Chance zu erspüren wie das Verhältnis zwischen der (künftigen) Pflegekraft und Eurem Kind ist. Wenn da Wertschätzung und Professionalität zu spüren ist UND Euer Kind sich in der jeweiligen Einrichtung nicht negativ verändert oder sogar aufblüht, dann ist alles in Ordnung.

Letztlich ist es doch auch bei unseren erwachsenwerdenden Söhnen und Töchtern ohne Behinderung so: Ab einem gewissen Alter können wir nur noch da sein und hinspüren, ob es ihnen gut geht. Und wenn wir merken, dass etwas nicht mehr stimmt, dann sind wir als Eltern erwachsener Söhne und Töchter als Rettungsnetz da. Mehr können wir nicht tun. Aber WENN wir DAS tun – dann ist das schon sehr viel!

Ein gutes Beziehungsnetz und aufmerksame Familien sind keine Garantie. Natürlich gibt es Familien, die trotz Achtsamkeit nichts mitbekommen haben, von einem Missbrauch. Einfach weil die Täterin oder der Täter sich sehr gut getarnt haben. Oder weil unser Kind selbst nicht spürt, dass ein Verhalten unangemessen ist. Oder weil unser Kind sich nur sehr schwer ausdrücken kann.

Aber auf der anderen Seite gibt es doch sehr viele Familien, die frühzeitig spüren, wenn ihr Kind sich unwohl fühlt. Mütter, die merken, dass etwas nicht stimmt. Väter, die mitbekommen, dass der Sohn oder die Tochter weniger lebensfroh wirken, bedrückt oder zurückhaltend sind.

Vertrauensvolle Aufmerksamkeit – Aufmerksames Vertrauen

Wir können unsere erwachsenen Kinder leider nicht vor allem beschützen. Wir werden nicht ewig hier sein. Wir müssen vertrauen. Anders würden wir den Auszug unserer Kids nicht überleben. Anders könnten wir unser Kind noch nicht mal dem Kindergarten, der Schul-Assistenz, dem Busfahrer überlassen.

Aber wir dürfen darauf vertrauen, dass die aller-, allermeisten männlichen und weiblichen Pflege- und Betreuungspersonen ihren Job aus Freude an der Arbeit mit Menschen und nicht zur Erfüllung unangemessener Triebe gewählt haben. In meinem Berufsleben als Pflegekraft, Diakonin, Lehrerin, Elternkurs-Leitung, Dozentin sind mir unendlich viele Menschen begegnet, die mit wahrer Hingabe und persönlichem Engagement ihren Beruf ausüben.

In meiner Zeit als Mutter von 3 Kindern, davon einem mit Behinderung, habe ich unendlich viel tolle, aber auch einige weniger großartige Erzieher*Innen, Heilerziehungspfleger*Innen, Therapeut*Innen und Assistent*Innen begegnet. Die meisten waren in Ordnung, selbst wenn einige menschlich gewöhnungsbedürftig waren. Und viele waren einfach wunderbare Menschen.

Natürlich müssen wir die Statistiken ernst nehmen. Übergriffe dürfen nicht verharmlost werden. Das ist nicht meine Absicht. Zwischen Aufmerksamkeit und Vertrauen ist ein schmaler Grat. Aber diese Gratwanderung ist eine der wichtigsten, wenn auch sicher der schwersten Aufgaben, die wir als Eltern, Geschwister und sorgende Angehörige pflegebedürftiger und behinderter Menschen haben!

Wir dürfen niemanden ohne triftige Anhaltspunkte vorverurteilen oder misstrauen. Denn ein Misstrauen gegen die Menschen, die mit unseren Kindern arbeiten – das bemerken unsere behinderten Kinder. Egal in welchem Alter. Es verunsichert sie und kann die Beziehung zum Betreuenden völlig grundlos vergiften.

Andererseits müssen wir aufmerksam bleiben. Hinschauen. Nicht bagatellisieren. Die kleinen Signale unserer Söhne und Töchter mit Behinderung ernst nehmen und verlässlich und regelmäßig da sein. Aufmerksam, aber ohne Misstrauen. Vertrauensvoll aber nicht vertrauensseelig.

Der beste Schutz vor Übergriffen bei schwerbehinderten Menschen ist ein gutes, stabiles soziales Netzwerk und die beste Kommunikationsfähigkeit, die wir unseren Kindern ermöglichen können.
Das ist kein 100%iger Schutz. Aber es ist ein Schutzfaktor.

Achtsame Pflege im Elternhaus ist Prävention vor Übergriffen in der Einrichtung

Sexualpädagog*Innen empfehlen uns von klein auf Körperteile zu benennen. Sie betonen, wie wichtig es ist, den aktiven oder zumindest passiven Wortschatz in Bezug auf Geschlechtsteile zu fördern. Nur wer etwas benennen, gebärden oder auf einer Körperschema-Tafel zeigen kann, hat die Möglichkeit Wünsche, Bedürfnisse aber auch Schmerz oder Ablehnung auszudrücken.

Man sagt uns, dass es wichtig ist Kinder und Heranwachsenden ihren (sich verändernden) Körper entdecken zu lassen, Selbstbestimmung zu fördern und deutlich zu machen, dass es okay ist „Nein“ zu sagen.

Das bedeutet auch, dass wir selbst als Eltern darauf achten müssen, Kinder die nicht kooperieren wollen ernst zu nehmen. Wir dürfen uns nicht über den vermeintlichen „Trotz“ ärgern oder uns verunsichern lassen, wenn unser Kind nicht kooperiert.

Der beste Schutz vor Übergriffen außerhalb des Elternhauses ist es, schon IM Elternhaus sehr achtsam zu sein. Wie leicht übergeht man die Signale, dass unser Sohn oder unsere Tochter JETZT nun mal nicht duschen, waschen oder Haare kämmen möchte!

Wenn wir wollen, dass unsere Kinder begreifen, dass sie über ihren Körper und alles was mit ihm geschieht SELBST BESTIMMEN dürfen, so müssen wir von klein auf ihre Intimsphäre und ihre Selbstbestimmung achten – auch wenn das manchmal verdammt unbequem ist!

Praxis-Tipp: Oft bedeutet mangelnde Kooperation oder Ablehnung von Pflege oder Ankleiden nicht, dass unser Kind gar nicht und niemals will. Meist ist es nur ein „Nicht jetzt“, „Nicht hier“ oder „Nicht so!“. Das gilt es herauszufinden. Manchmal steckt auch nur der Wunsch nach Mitbestimmung hinter dem „Nein!“. Dann hilft es Wahlmöglichkeiten anzubieten: „Möchtest du jetzt duschen oder nach dem Essen?“, „Möchtest Du die Hand-Zahnbürste oder die Elektrische?“, „Hast Du schon entschieden welches Duschgel Du möchtest?“.

Auch wenn wir das Gefühl haben, dass die Pflege durch Eltern „anders“ ist – für unsere Kinder ist sie der einzige Maßstab, den sie kennen. Das was sie im Elternhaus an Selbstbestimmung, Mitwirkung, Abgrenzung und Respekt erfahren und (er-)leben dürfen, das ist für sie die Normalität, die sie auf jeden anderen Pflegenden übertragen.

Wenn uns dann eine Pflegekraft sagt: „Ach – ihm/ihr macht das nichts aus!“ – dann trifft es vielleicht sogar zu. Wer ein zu vertrauliches Verhalten von Mutter und Vater gewohnt ist, der wird dies auch bei einem Fremden möglicherweise nicht als unangemessen empfinden. Denn im Gegensatz zu erwachsenen Pflegebedürftigen, die erst im Erwachsenenalter hilfsbedürftig werden, erleben unsere Kinder keine Phase der physischen Autonomie und der Unabhängigkeit von Assistenz. 

Leben mit der Angst

Und dennoch: Die Angst bleibt, dass unseren Kindern in der Einrichtung was passieren könnte. Potentielle Täter*innen haben von dem Moment an Zugriff, an dem wir unsere Kinder das erste Mal in den Kindergarten lassen. Es kann im Bus, in der Schule, der Tagesstätte, der Werkstatt, dem Heim, am Arbeitsplatz oder während der Freizeit-Assistenz passieren.

Und dennoch dürfen wir unseren Kindern das Leben nicht verweigern. Sie können sich nur entfalten, selbständig werden, erwachsen werden, indem sie -und wir- die Assistent*Innen und Pflegekräfte in ihrem Leben akzeptieren und ihnen vertrauen. Alles andere ist keine Option.

Unsere Kinder auf ewig selbst zu Betreuen ist keine Lösung. Unsere Kinder brauchen Freunde und Freundinnen bzw. Peers. Sie brauchen die Möglichkeit der Abnabelung vom Elternhaus – und wir brauchen das auch. Daher müssen wir die Kompetenz  auf diesem Grat zwischen Vertrauen und Aufmerksamkeit zu tanzen ständig weiter entwickeln.

Diese Aufmerksamkeit sollte unabhängig von Geschlechterfragen, Status, Herkunft und Beruf der Menschen sein, die das Leben unserer Kinder mitgestalten. Denn ja: Es könnte passieren, dass eine weibliche Betreute von einem Mann missbraucht wird – genauso gut kann sie aber auch von einer Frau missbraucht oder misshandelt werden. Und männliche Pflegende könnten genausogut Jungs missbrauchen. Ebenso wie weibliche Pflegende übergriffig, grausam oder unangemessen mit Pfleglingen beiderlei Geschlechts umgehen können.

Und dann wäre da noch die eine Superkraft …

Mir hilft es den Blick auf meine Tochter zu fokussieren: Geht es ihr gut? Fühlt sie sich wohl? Steigt sie fröhlich in den Bus und kommt sie gut gelaunt wieder?

Es hilft nichts mit Argusaugen die Reihen der Betreuenden zu scannen. Die Täter*innen tarnen sich zu gut. Wir können niemandem seine Taten oder Absichten oder Phantasien von der Stirn ablesen.

ABER die meisten von uns haben EINE SUPERKRAFT: Wir können unsere Kinder lesen. DAS ist die Fähigkeit, die wir durch jahrelange intensive Betreuung und Pflege entwickelt haben. Wir wissen, wann und wo es unseren Kindern gut geht – und wann ihnen etwas zu schaffen macht. Auf unser Bauchgefühl zu hören, unserer Intuition zu vertrauen, die durch jahrelanges Zusammenleben und unzählige Erfahrungen miteinander geschult ist – das ist das Einzige was wir wirklich tun können.

Vertraut auf Euer Bauchgefühl bei Besuchen in der Einrichtung. Beobachtet wie Euer Kind sich gegenüber den Pflegepersonen und Betreuenden verhält. Ist es entspannt und zufrieden? Oder unruhig und gegenwehrig. Wie sprechen die Betreuenden über ihre Pflegebedürftigen?

Wenn ihr ein komisches Gefühl bekommt – dann ist es Zeit zu handeln. Wenn plötzlich die Rede von einem unkooperativen Verhalten Eurer Tochter oder Euer Sohn sich von einem Tag auf den anderen unangemessen verhält – dann sollte man ganz genau hinschauen. Und ich bin sicher genau das werdet ihr tun.

Der einzige Weg mit dem Erwachsenwerden unserer behinderten Kinder umzugehen  ist meiner Ansicht nach der des „aufmerksamen Vertrauens“ oder der „vertrauensvollen Aufmerksamkeit“. Unsere Kinder zu Hause zu behalten ist keine Alternative. Ständige Sorge auch nicht.

Ich weiß nicht, ob diese Zeilen Euch helfen, aber es war mir ein Bedürfnis meine Gedanken zu dem Thema mit Euch zu teilen. Ich bin sehr neugierig, was ihr darüber denkt. Wie ihr mit diesem Thema umgeht. Ob ihr noch weitere Tipps und Perspektiven für andere Eltern habt. Fühlt Euch frei die Kommentare für Austausch und Rückfragen zu nutzen und Eure Gedanken mit den anderen hier zu teilen … Alles Gute und die Besten Wünsche für Euch und Eure Kinder.

Eure
Marion Mahnke

10 Gedanken zu „Vertrauensvolle Aufmerksamkeit – Aufmerksames Vertrauen

  • Hallo Marion,
    ich habe angefangen deinen Artikel zu lesen und mir ist es fast nicht gelungen ihn bis zum Ende zu lesen.

    „Aber ihr habt die Pflegenden, die Erzieher*innen und Betreuenden kennengelernt.
    Und: Ihr kennt Euer Kind. Und wenn ihr sensibel für dieses Thema seid, dann habt ihr eine große Chance zu erspüren wie das Verhältnis zwischen der (künftigen) Pflegekraft und Eurem Kind ist. Wenn da Wertschätzung und Professionalität zu spüren ist UND Euer Kind sich in der jeweiligen Einrichtung nicht negativ verändert oder sogar aufblüht, dann ist alles in Ordnung.“

    Nein, das ist es nicht!
    Das ist Wunschdenken und hört sich für mich, als betroffene Mutter, vorwurfsvoll an. (wahrscheinlich empfinde ich es so weil ich meine Tochter davor nicht schützen konnte)
    Aber:
    Wir kennen die Pflegekräfte, Betreuer,… eben nicht. Und unser Vertrauen das wir hatten, und das unsere Tochter hatte, wurde heftigst missbraucht.
    Ja, es wäre toll, wenn es so einfach wäre wie du schreibst, aber das ist es leider nicht.
    Die Menschen, die übergriffig sind zu behinderten Menschen, wissen sehr wohl wie sie das geschickt anstellen und du als Eltern wirst sehr lange hinters Licht geführt bis du merkst, dass da was nicht stimmen kann. Wir hatten Vertrauen, standen in engem Kontakt, und genau das war falsch und wurde ausgenutzt.
    In der Theorie hört sich alles wunderbar, vernünftig, ja sogar leicht, an. Aber in der Realität ist das nicht so.

    Es ist sehr, sehr schlimm wenn du dein Kind davor nicht bewahren konntest.
    Und danach jahrelang mit ansehen musst wie dein Kind zerstört wurde. Diesen Schmerz und die Selbstvorwürfe wirst du nie mehr los!

    Mein Appell an Eltern: Seid immer kritisch, vertraut nie voll und ganz, hinterfragt alles!

    Ich wünsche allen das nie erleben zu müssen!
    Steffi

    Antwort
    • Marion Mahnke

      Hallo Stefanie,
      oh ja – ich verstehe sehr gut, dass dieser Artikel schwer zu lesen ist, wenn man direkt betroffen ist. Und ich kann dir versichern, dass von meiner Seite keinerlei Vorwurf mitschwingen sollte.

      Der von dir zitierte Satz ist vielleicht nicht optimal formuliert, obgleich ich mir große Mühe gegeben habe. Aber es ist sehr, sehr schwer über dieses Thema zu schreiben und am Ende einen Artikel herauszubekommen, in dem gar nichts missverstanden werden könnte. Ich habe mich entschieden dennoch darüber zu schreiben und dieses Risiko falsch verstanden zu werden einzugehen. Denn ich bin überzeugt: Das Schlimmste was wir tun können ist NICHT darüber zu sprechen. Wir müssen darüber reden und diskutieren. Und deshalb Danke ich dir sehr für deinen Kommentar. Mit dem zitierten Satz wollte ich nicht ausdrücken, dass es die Chancen erheblich verbessert etwas mitzubekommen, wenn man hinschaut. Sowohl auf die Menschen, die mit dem eigenen Kind arbeiten, als auch auf sein Kind.
      Aber du hast völlig Recht: Es ist keine Garantie. Das schreibe ich wenig später auch:

      „Ein gutes Beziehungsnetz und aufmerksame Familien sind keine Garantie. Natürlich gibt es Familien, die trotz Achtsamkeit nichts mitbekommen haben, von einem Missbrauch. Einfach weil die Täterin oder der Täter sich sehr gut getarnt haben.“

      Worum geht es mir? Es geht mir darum: Sein Kind aus dem Haus zu geben ist ein Risiko. Ein Risiko, das keiner von uns eingehen möchte, aber es gibt keine Alternative dazu. Denn das Kind von der Gesellschaft, von einem eigenen Leben, von der Loslösung vom Elternhaus abzuhalten ist ebenfalls schädlich.

      Ich möchte keinesfalls zu unbedingtem Vertrauen auffordern. Aber wir können auch nicht in stetigem Misstrauen überleben. Und wir können es unseren Kindern auch nicht antun, sie in eine Einrichtung zu schicken und sie unser Misstrauen spüren zu lassen – denn das macht ihnen Angst.

      Du sagst: „Seid immer kritisch, vertraut nie voll uns ganz, hinterfragt alles!“. Das möchte ich genauso unterschreiben. Und das meinte ich mit der Aufmerksamkeit. Vertrauen darf nie allein stehen. Es muss stets von kritischer Aufmerksamkeit begleitet sein. Aber die kritische Aufmerksamkeit darf auch nicht so weit gehen, dass wir allen Menschen misstrauen, die in Pädagogik, Pflege etc. aktiv sind.

      Wenn wir in allen Menschen ohne Anhaltspunkte Täter*innen sehen, dann negieren wir auch die positiven Eigenschaften, die viele Menschen haben: Soziales Engagement, Empathie, den Willen anderen Menschen zu helfen.

      Und ja: Das gefährliche ist, dass die Superschurken sich genau in dieses Gewand kleiden. Der Grat zwischen notwendigem (aufmerksam-kritischem!) Vertrauen und misstrauischer Besorgnis ist schmal. Und niemand außer dem Täter/der Täterin ist Schuld, wenn es dennoch passiert.

      Aber wenn wir unseren Kindern das Erwachsenwerden, die Teilhabe an Freizeiten, Jugendcamps, Schule, Kindergarten, Werkstatt, Berufsleben und das Wohnen in Wohngruppen, betreutem Wohnen oder Einrichtungen verwehren, weil wir Angst vor den Täter*innen haben, dann ist das auch kein erfülltes Leben.

      Um es nochmal ganz klar zu sagen: Täter*innen sind klug. Sie sind oft empathisch und wissen genau wie sie harmlos erscheinen können. Und wenn da ein Bauchgefühl ist, sollten wir sofort sehr alarmiert sein. Aber auf der anderen Seite entsteht auch viel Leid, wenn unschuldigen wirklich aufrichtig engagierten Menschen ein unzutreffender Vorwurf gemacht wird. Auch das müssen wir vermeiden. Denn wenn junge Männer schon vorverurteilt werden, weil ihre Berufswahl „Heilerziehungspfleger“ oder „Erzieher“ lautet, dann werden immer weniger aufrechte und engagierte Männer dieser Berufung folgen. Und die Täter-Dichte wird grösser. Verstehst du was ich meine?

      Bitte fühle dich von meinen Worten in absolut keiner Weise angegriffen. Meine eigene Tochter ist meines Wissens nach nie angegriffen worden, aber ein kleines bisschen kann ich dieses Schuldgefühl nachvollziehen, weil uns etwas anderes passiert ist. Ich habe den Ärzten vertraut, die 3,5 Jahre behauptet haben, Finja hätte keine Zöliakie. Das hätten die Bluttests klar gezeigt. Und das war falsch. Sie hat 3 Jahre unter unnötigen Bauchschmerzen gelitten, ihr Darm ist geschädigt und ich gehe davon aus, dass die starke geistige Behinderung und die Autistischen Züge Folge dieser unerkannten Gluten-Allergie waren.

      Ich weiss – ich hätte nichts tun können. Und dennoch frage ich mich, ob ich hätte nochmal nachfragen, auf weitere Diagnostik dringen sollen. Ich wusste, dass „irgendwas“ da nicht stimmt. Dass es „kein normales Down-Syndrom“ ist. Ich kannte das Zöliakie-Risiko und bin regelmässig zum Bluttest gegangen. Erst als die Diagnose-Parameter geändert wurden hat der Bluttest ergeben, dass sie DOCH Zöli hat. Und mein Kind hat binnen 2 Tage keine Schmerzen mehr leiden müssen. Nach 3 Jahren Folter zwischen Abstillen und Diagnosestellung.

      Ich weiss – das ist etwas völlig anderes. Kein Leid ist mit anderem Leid vergleichbar. Aber dieses Gefühl im Bauch, dass ich als Mutter hätte „irgendwas“ tun müssen, dass ich es „eher“ merken, intensiver nachfragen, besser recherchieren, kritischer ansprechen hätte sollen – das ist vermutlich sehr ähnlich.

      Daher bedaure ich es zutiefst, wenn mein Artikel bei Dir so angekommen ist.

      NEIN – wir KÖNNEN ES NIE WISSEN. Wir können nicht alles verhindern. Wir können unseren Kindern nicht alles Leid ersparen. Wir wissen nicht, wer unter den vielen guten, engagierten Menschen der/die verborgene Täter*in ist. ABER in stetem Misstrauen und Angst können wir auch nicht leben. Wir müssen uns der Risiken bewusst sein. Und müssen sie dennoch eingehen. Genau wie du es sagst: kritisch und hinterfragend. Aber meiner Auffassung dennoch mit einem gesunden Maß an Vertrauen bei gleichzeitiger kritischer Aufmerksamkeit.

      Ich danke Dir nochmals für Deinen Kommentar. Es ist so wichtig, dass diejenigen, die es erleben mussten darüber sprechen.

      Mein Beitrag sollte die Gefahr keineswegs verharmlosen, sondern nur einen Weg aufzeigen, wie man damit leben kann. Denn die Gefahr ist da. Und wir müssen irgendwie damit leben lernen, dass wir nur Risiken minimieren, aber nicht ausschalten können. Wir müssen Wege finden, damit zu leben, dass wir unsere erwachsenen Söhne und Töchter anderen Menschen anvertrauen müssen. Dazu wollte ich mit diesem Artikel anregen. Ich sehe keine Alternative zu dem von mir vorgeschlagenen Weg. Aber vielleicht könnte man es „Kritisches Vertrauen“ nennen, um klarer zu machen, worauf ich hinauswollte.

      Mit allerbesten Grüßen
      Marion

      Antwort
  • Liebe Marion.
    Wunderbar geschrieben.💓
    Wir ( mein Mann und ich) haben mit den Jahren gelernt, zu Vertrauen und auch Signale zu spüren.
    Mein Sohn 27. ist schwerst mehrfach Behindert. Von der anfänglichen Sorge in fasst jedem einen „Täter“ zu sehen.
    Ist mit der Zeit Vertrauen gewachsen. Menschen eine Chance zu geben, das auch sie meinen Sohn „gut“ Pflegen können.
    Ich denke, gerade die ersten Jahre sind da die schwierigsten.
    Wir haben noch eine behinderte Pflegetochter. Da ist die Verantwortung noch mal größer.
    Aber auch da haben wir gelernt, mit Vertrauen, vielen Gespräche und Kontakte.
    Beiden Seiten die Möglichkeiten zu geben, ihre Ängste und Sorgen mitzuteilen.
    Sich kümmern. Nicht nur um das „besondere“ Kind.
    Auch um Lehrer, Erzieher e.t.c.
    Präsenz zeigen.
    Das nimmt einem ein großes Stück Sorgen ab.
    Wir nehmen ab und an immer mal wieder Kinder unterschiedlichen Alters in der Kurzzeitpflege auf.
    Man bekommt nicht immer sofort eine Biografie der Kinder, was ihnen wieder fahren ist . Die meisten sind Traumatisiert. Auf welche Weise auch immer. Aber durch Beobachtung und zuhören findet man sehr schnell heraus, warum es ihnen nicht gut geht.
    Und so halte ichbezogen auch bei meinen Kindern, Pflegekindern und Enkelkindern.
    Beobachten, Zuhören, Vertrauen.
    Mehr geht nicht.
    Liebe Grüße
    Andrea

    Antwort
    • Marion Mahnke

      Genau. Mehr geht nicht. Aber Beobachten-Zuhören-Vertrauen ist schon sehr, sehr viel. Auch wenn wir uns natürlich alle wünschen würden, wir könnten alle Schrecken und Unglücke von den Kindern fernhalten, die uns anvertraut sind.

      Antwort
  • Birgit Oppermann

    Ein toller Artikel mit vielen wertvollen Gedanken. Ich mag vor allem den Schluss. Ich selbst habe zwar kein pflegebedürftiges Kind, aber so ganz anders ist die Angst ja auch bei einem gesunden nicht. Und das Wissen um diese persönliche Superkraft, die die meisten Eltern haben, ist schon sehr beruhigend und wertvoll.
    Viele Grüße,
    Birgit

    Antwort
    • Marion Mahnke

      Hallo Birgit,
      danke für diese Zeilen und es freut mich sehr, dass es auch für Eltern von Regelkindern hilfreiche Gedanken sein können. Ich finde den Gedanken an die Superkraft auch hilfreich. Auch wenn uns natürlich immer bewusst ist, dass selbst Superhelden nicht alles Unglück der Welt verhindern können und das es zu jedem Superhelden eben auch einen Superschurken gibt. Aber ich finde es ist wichtig sich dieser Superkraft bewusst zu sein, damit man sie pflegt und sie aktiviert hält.

      Antwort
  • Maria H.

    Liebe Marion,
    du sprichst mir aus der Seele. Das Interessante für mich war, dass ich ganz oft in Gedanken bei meinem nicht behinderten Kind war. So zeigt sich für mich einmal wieder, dass die Sorgen um ein Kind doch immer die gleichen sind egal ob mit oder ohne Behinderung. Danke für diese lebensnahen Zeilen.

    Antwort
    • Marion Mahnke

      Hallo Maria,
      ja – es ging mir beim Schreiben ähnlich. Auch ich habe an alle drei Kinder gedacht. Und eben daran, dass wir es nie wissen können. Es gibt Menschen – sowohl im familiären Umfeld als auch in den Jugendeinrichtungen, den Wohngruppen und Schulen, die Menschen misshandeln und missbrauchen. Und wir können es nie wissen. Wir können nur versuchen unsere Kinder zu stärken und aufmerksam bleiben – und Ihnen die Gewissheit geben, dass wir für sie da sind und sie mit allen Problemen zu uns kommen können. Es ist unbefriedigend. Aber eben das wenige was wir tun können.

      Antwort
  • Thomas Henrichsen

    Sehr Geerthe Frau marke bei uns in unserer dorfgemeinschaft war ein misbrauchsfall.mit 5frauen von einem Mitarbeiter Sohn wir versuchen denn Fall aufzuarbeiten was sehr schwierig ist während seiner Ausbildung hat in einer Kinder Einrichtung mit freundlichen Grüßen Thomas Henrichsen

    Antwort
    • Marion Mahnke

      Sehr geehrter Herr Henrichsen,
      das ist schlimm zu hören. Es ist nicht leicht solche Dinge aufzuarbeiten. Aber es ist wichtig, dass diese Dinge nicht im Verborgenen bleiben, sondern öffentlich gemacht werden. Und vor allem: Es muss alles getan werden, damit diese Dinge nicht mehr geschehen!
      Mit besten Wünschen
      Marion Mahnke

      Antwort

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