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Schaffe ich das???

Dieser Artikel ist für Dich: Wenn Du gerade eine Diagnose für Dein Kind erhalten hast. Oder: Wenn Dein Arzt einen ersten Verdacht äußert, der Dir Angst macht. Oder:  Wenn Du spürst, dass die Aufgaben und Herausforderungen größer sind, als sie zunächst schienen.

Schaffe ich das? Kann ich das schaffen? Werde ich das schaffen?

Diese Fragen stellen die wenigsten Mütter laut. Manche gestehen sie sich nicht mal ein. Und doch schwingt sie in meinen Beratungen oft zwischen den Zeilen mit.

Niemand kommt wegen dieser Frage zu mir. Denn die Frage darf nicht sein. Weil die einzige Antwort lauten kann: Ich muss es ja schaffen. Und eine Frage, auf die es nur eine Antwort geben kann und darf, ist eben keine Frage.

Ich möchte Dir dennoch meine Gedanken dazu sagen. Vielleicht bist Du gerade schwanger mit einem Kind mit Down-Syndrom. Vielleicht spürst Du, dass Dein wunderbares Kind nicht nur „leicht entwicklungsverzögert“ ist, sondern eine Behinderung hat und machst dich auf den Weg, um Gewissheit und eine Diagnose zu erlangen. Vielleicht bist Du auch schon eine erfahrene Special-Needs-Mom, aber die Herausforderungen des Lebens werden gerade schwerer als bisher.

Egal was Dir gerade den Boden unter den Füßen wegreißt, egal wo Du gerade stehst: Du bist nicht allein.

Ich kenne das. Diesen Moment, in dem das Schicksal eine Wendung nimmt, die Dich scheinbar ganz weit von dem Weg führt, was Du geplant, gewollt und gewünscht hast. Den Moment in dem Dein Leben für einen Moment still steht. Und die Fassungslosigkeit, wenn man spürt, dass die Erde sich weiterdreht und alle ihren Geschäften nachgehen, während Dein Leben sich anfühlt, als wärest du aus vollem Lauf gegen eine Wand geknallt.

Doch auch wenn die Diagnose schon lange verdaut ist, eine ganz eigene, individuelle Normalität in unser Leben eingezogen ist, kann es passieren, dass die Frage: „Schaffe ich das?“ wieder auftaucht.

Wenn Du realisierst, dass Dein Kind jetzt nicht mehr klein ist, eine neue Diagnose in Euer Leben tritt oder die Herausforderungen Deines besonderen Lebens mit den Jahren ihren Tribut fordern.

Es gibt diese Momente, in denen wir uns fragen:

  • Kann ich eine gute Mutter für dieses Kind sein?
  • Schaffe ich es meinem Kind gerecht zu werden?
  • KANN ich diesen Berg, der vor mir liegt, bewältigen?

Meine eigene Tochter wird in dieser Woche 15 Jahre alt. Ziemlich genau um diese Zeit vor 15 Jahren wurde uns gesagt, sie sei „zu klein“ und wir müssten sie „jetzt auf die Welt holen.“ 4 Monate später: Verdacht auf Down-Syndrom. 10 Tage danach die Bestätigung. 5 Jahre später die Diagnose Zöliakie, dann Autismus. Dazwischen: eine sehr, sehr langsame Entwicklung. Die Erkenntnis, dass mein Kind selbst nach den Maßstäben des Down-Syndroms kognitiv stark eingeschränkt ist. Immer bleiben wird. Ich kenne diese Momente also nur zu gut.

Und ich habe im Laufe der Jahre eine überraschende Antwort auf diese Frage gefunden. Es ist meine Antwort. Sie ist nicht alleinseeligmachend und für alle wahr. Aber wenn Du MICH fragst „Werde ich das schaffen?“ dann sage ich Dir folgendes:

Das musst Du gar nicht!

Du, die Du jetzt diese Zeilen liest, musst „es“ nicht schaffen. Du darfst weinen und trauern und wütend sein. Aber Du musst diesen ganzen Berg, dieses ganze Leben, diese ganzen Herausforderungen gar nicht bewältigen.

Denn: Du wirst morgen nicht mehr die Person sein, die Du heute bist!

Ich möchte Dich folgendes fragen:

  • Kannst Du es schaffen DIESEN Tag zu bewältigen?
  • Kannst Du Deinem Kind HEUTE eine gute Mutter sein?
  • Kannst Du heute gut für Dich sorgen?

Ich vermute, Du antwortest: Ja! Das kann ich. Diesen Tag schaffe ich. Heute kann ich mein Kind angemessen versorgen. (Vielleicht schaffst Du es heute nicht, dabei auch noch gut für Dich zu sorgen – versuche es trotzdem. Auch das wird Dir mit etwas Übung gelingen!)

Aber das Wesentliche ist: Überstehe diesen einen Tag. Morgen bist Du ein anderer Mensch. Ein kleines bisschen stärker. Ein Stück erfahrener. Vielleicht klüger und weiser.  

Erinnere Dich an den Menschen, der du vor einem Jahr, 5 Jahren, 10 Jahren gewesen bist: Hätte der all das gekonnt und geschafft, was Dir heute gelingt? Morgen, nächstes Jahr, in 5 oder 10 Jahren wirst Du eine andere Person sein. Und meine persönliche aber auch meine berufliche Erfahrung nach mehr als 13 Jahren in der Beratung von Müttern behinderter Kinder zeigt: Diese Person WIRD es schaffen.

Vertraue Deinem zukünftigen „Ich“. Vertraue der Maria, Laura, Tanja oder Nina von Morgen!

Dein heutiges Ich hat noch nicht die Ressourcen Deines Ichs von Morgen! Morgen bist Du ein kleines bisschen erfahrener, schlauer, hast vielleicht herausgefunden welche finanziellen Mittel Dir und Deinem Kind zustehen und hast ein ganz anderes Netzwerk an UnterstützerInnen. Deine innere Haltung und deine Werte werden vielleicht andere sein und du wirst rausgefunden haben, wo Du die Hilfe bekommst um es zu benötigen. 

Wenn wir uns fragen, ob wir es schaffen, gehen wir fälschlicherweise von den Ressourcen aus, die wir heute haben.

Das großartige Geheimnis aber ist: Deine Ressourcen wachsen mit Deinen Herausforderungen. Du wirst da reinwachsen. Du musst heute nicht die perfekte Mutter eines Jugendlichen mit Behinderung sein und über seine künftige Wohn- und Arbeitssituation nachdenken, wenn Dein Kind noch klein ist – oder Du gerade erst schwanger. Du musst heute nur eine gute Baby-Mutter sein. Und: Du darfst darauf vertrauen, dass die Frau die Du sein wirst, wenn Dein Kind ins Jugend-Alter kommt, mit allem klarkommt, was DANN ansteht.

Der Berg erscheint uns immer so groß, wenn wir im Tal der Tränen den Aufstieg beginnen. Aber ich kann Dir eines sagen: Die Frau die heute beginnt den Berg zu erklimmen ist nicht diejenige, die oben ankommt!

Du wirst unterwegs wachsen, vielleicht heilen was jetzt innerlich in Dir zerbricht. Du wirst  Blasen und Narben vom Weg haben, älter werden, stärker werden oder ausdauernder. Du wirst wunderbare Ausblicke und Momente genießen. Etappenziele erreichen. Und ganz, ganz großartigen Menschen begegnen, die Dich ein Stück des Weges begleiten.

Es ist nicht der Weg, den Du freiwillig gewählt hättest. Da wollen wir uns nichts vormachen. Es ist wohl auch nicht das Leben, dass Du Dir für Dein Kind gewünscht hättest. Und nach all den Jahren und den vielen Müttern, die ich ein Stück des Weges begleiten durfte werde ich gewiss nicht sagen: „Alles wird einfach. Es ist nicht so schlimm, wie es scheint. Alles wird gut.“.

Das wird es zwar. Aber vielleicht anders als Du jetzt glaubst. Denn das „gut“, was Du Dir heute wünschst, wenn Du diese Zeilen liest, ist wahrscheinlich nicht das „gut“, was Dein späteres Ich darin sieht. Ja: Alles wird gut. Aber das bedeutet nicht, dass alles so wird, wie Du es Dir erträumt hast. Aber eben: Anders gut. Vielleicht „außergewöhnlich gut“?

Wichtig ist, dass Du bereit bist, Dir Hilfe zu holen, wenn Du etwas allein nicht schaffst, Dich sortieren musst, Angst hast. Denn dieser Weg – das trifft es nun mal – ist womöglich steinig und schwer. Es mag Tage geben, an denen es Dir schwerer fällt, Dein Kind, Dein Leben, Dich selbst zu lieben. Tage, an denen Du nur Watte fühlst oder das Gefühl hast, dass Deine Gefühle unangemessen sind. Das stimmt nicht. Sie sind da. Und sie sind okay. Und es gibt Tage, an denen spüren wir unsere Gefühle nicht. Weil ein Schutzschild zwischen uns und unseren Gefühlen liegt. Aber das wird nicht so bleiben. Meist löst sich das von selbst. Wenn nicht: Es gibt Hilfe auf dem Weg. Freunde, Therapeuten, Coaches und vor allem: Andere Reisende, die denselben Weg gehen. Menschen in einer ähnlichen Situation.

Vielleicht fällt es Dir schwer, heute darauf zu vertrauen, dass Dein Zukunfts-Ich es schafft. Aber: Ich weiß, dass ihr Zwei – Du und Dein Zukunfts-Ich – das gemeinsam schaffen werdet!

Warum? Weil Du gerade diese Zeilen liest. Und das bedeutet, dass Du die Kraft hast, Dir Hilfe zu holen und Dich nicht davor scheust, Dich zu informieren und danach strebst, das Beste aus dieser Situation zu machen. Das ist die allerbeste Grundlage. Eine Grundlage, die es Dir erlaubt die Frau zu werden, die Du sein musst, um diesen Weg erfolgreich, in Würde und hocherhobenen Hauptes zu gehen. Und: Freude an diesem Weg zu entwickeln! Die Herausforderung anzunehmen. Über die Schönheiten am Wegesrand zu stauen. Dir notfalls Deinen eigenen Weg zu bahnen.

Du wirst dieses Leben, so wie es ist, annehmen. Und Du wirst kämpfen. Und Du wirst Dich informieren. Und Du wirst lernen, wann Du etwas akzeptierst, um Kraft zu sparen und wann Du all Deine Energie aktivieren musst, um ein Problem zu lösen.

Du wirst stärker werden. Wissen über die besonderen Bedürfnisse Deines Kindes erlangen. Deine eigenen Bedürfnisse kennen- und verstehen lernen. Und Dir die Zeit nehmen, die Du brauchst um das nächste Stück des Weges anzugehen. Das Wissen finden, dass du brauchst, um diesen Weg zu gehen.

Warum ich da so sicher bin? Ganz einfach! Es gibt eines, das wir heute sagen können: Du liest diesen Artikel. Das zeigt: Du bist eine Frau, die bereit ist, eine Hand zu ergreifen, die Dir gereicht wird. Du bist eine Frau, die nach Informationen sucht. Du bist eine Frau, die in einer schwierigen Situation nicht die Flinte ins Korn wirft oder in Trauer versinkt. Du bist eine Frau, die aufsteht, die Schultern strafft und herausfindet, wie man diesen Berg am Besten bewältigt! Das sehe ich daran, dass Du nach Informationen, Rat und einer Antwort auf Deine Frage gesucht hast.

Mutter eines behinderten Kindes zu sein ist kein Spaziergang.
Viele behaupten das. Und vielleicht stimmt es für einige. Ich denke: Es ist eher eine Wanderung, manchmal eine Kletterpartie, oft eine Anstrengung. Aber Hey! Wer hat behauptet, dass wir auf dieser Welt sind, um es leicht zu haben? Manchmal ist der anstrengendere Weg auch der lohnendere. Das Leben mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen ist außergewöhnlich. Es ist turbulent, bunt, oft fröhlich – und eben auch wundersam, bittersüß, herausfordernd.

Es ist DEIN Leben. Es ist nicht das, was Du Dir gewünscht hast. Aber es ist trotz allem ein Geschenk. Ein Geschenk von dem Du jetzt vielleicht nicht weißt, was Du damit anfangen sollst. Das Dich ärgert. Und das verdammt nochmal nicht das ist, was auf Deiner Wunschliste stand!! Aber es ist, wie es ist.

Und du wirst das Beste daraus machen. Tag für Tag. Schritt für Schritt. Und eines Tages wirst Du die Frau sein, die diesen Weg gegangen ist. Eine wunderbare Frau mit vielen Erfahrungen, die große Liebe und große Herausforderungen erlebt haben wird. Eine Frau, die Dinge geschafft haben wird, von denen sie in jungen Jahren nie geglaubt hätte, das zu bewältigen.

Die Frau, die Du heute bist, sagt vielleicht zurecht: „Aber Marion: Ich habe die Kraft nicht. Die Ausdauer nicht. Die Ressourcen nicht. Wie soll ich das schaffen?“

Das mag wahr sein. Doch es ist kein Grund aufzugeben! Wie die Heldin im Märchen wirst Du unterwegs die Dinge finden, die Du brauchst. Darauf darfst Du vertrauen. Du wirst das Wissen erlangen, das nötig ist. Und Du wirst die Kraft finden, die Du brauchst. Und Freunde, Ratgeber, Unterstützer und Wegbegleiter. Du wirst wunderbare Menschen kennenlernen, tiefe Gefühle erleben und unglaubliche Erfolge feiern.

Und etwas ganz, ganz Wichtiges darfst Du nicht vergessen: Du gehst diesen Weg nicht allein! Die Liebe Deines Kindes wird Dir Kraft geben und die Liebe zu Deinem Kind wird Dir die Stärke geben weiterzugehen!

Und eines Tages wirst du überrascht feststellen, dass Du die Person geworden bist, die all das schaffen kann. All das geschafft hat. Alles was heute nötig ist, ist Liebe zu Deinem Kind und Vertrauen in Dich selbst und Deine Fähigkeit zu lernen, zu wachsen und jeden neuen Tag zu bewältigen.

Kümmere Dich nicht um die Sorgen von Morgen. Es heißt: „Von 10 Sorgen, die Du auf Dich zukommen siehst, fallen 9 in einen Graben, ehe sie Dich erreichen!“. Und das ist so wahr! Alles wird sich finden. Dein künftiges ICH wird es schaffen. Und darauf darfst Du heute vertrauen.

Heute bist Du die Mutter des Kindes, das heute vor Dir steht, oder liegt oder in Deinem Bauch ist. Und ich frage nochmal:

  • Kannst Du den heutigen Tag bewältigen?
  • Kannst Du Dein Kind angemessen versorgen?

Falls ja: Das ist für heute genug. Das Morgen sorgt für sich selbst.

Wenn Du gerade nicht an Dich selbst glauben kannst, dann tue ich es für Dich! Ich glaube ganz fest daran, dass Du es schaffen wirst! Du, die Du dies liest, schaffst diesen Tag. Und Du, die Du morgen aufwachst, schaffst den morgigen. Und so wirst Du Tag für Tag, Schritt für Schritt diesen Weg gehen. Und ankommen. Bei einem guten, bei einem außergewöhnlichen Leben! Mit Deinem einzigartigen, wunderbaren, besonderen Kind!

Und nun achte gut auf Dich.
Sorge für Dich und Dein Kind an diesem Tag.
Erledige das, was heute zu tun ist – und lass das Morgen morgen sein!

Alles Gute auf Deinem ganz besonderen Weg wünscht Dir

Deine
Marion von www.aussergewoehnlich-gut-leben.de

Geschrieben im Februar 2023

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