Abenteuer-Urlaub mit behindertem Kind
Im Zigeunerwagen durch die Puszta
„Abenteuer-Urlaub!“, „Wandern!“, „Was mit Tieren!“ forderten Jonathan (6) und Miriam (11) bei der Urlaubsplanung für 2016. „Entspannen!!“ wollte mein Mann. „Ab ins Warme – ich brauche Licht und Sonne und Wärme!“ betonte ich, denn die typischen norddeutschen Regen-Sommer der Vorjahre und die langen Winter machten mich fertig!
ABER: Da war ja noch Finja. 8 Jahre alt, Down-Syndrom, Autismus, Zöliakie. Finja spricht nicht, läuft wenig und wenn sie bockig ist, dann kann man sie kaum dazu bewegen etwas mitzumachen, was sie nicht will.
Alles unter einen Hut zu bringen – ob das ging?
Kurzerhand machte ich mich auf Internet-Recherche: Wandern mit Eseln? Wenn einer mit Finja im Basislager beim Zelt bliebe und der andere mit den beiden 46er-Kindern Tageswanderungen unternehmen würde, könnte das gehen. Aber dann müssten wir unsere Familie ständig trennen … auch nicht so schön. Wir wollten ja gemeinsame Erlebnisse!
Reiter-Ferien? Denkbar. Doch dann stießen wir auf die Angebote von „Katja van Leeuwen Reitferienvermittlung“ und fanden Planwagen-Fahrten. Das klang doch gut!
Von einem Hotel in der ungarischen Puszta aus sollte es in Pferdewagen für eine Woche von Hof zu Hof gehen. Die Tour war geführt, Erfahrung mit Pferden und Kutschieren nicht notwendig. Nur ein Erwachsener mit Führerschein pro Kutsche musste dabei sein. Das klang machbar. Wir buchten – und bereuten es nicht!
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Ein rollendes Zuhause.
Zugegeben: Die Planwagen waren rustikal – böse Zungen könnten behaupten: stark renovierungsbedürftig. Aber alles Nötige war drin: Ein Etagen-Bett, zwei Bänke und ein Tisch, die zu einem großen Doppelbett zusammengesetzt werden konnten, Gas-Herd, Gas-Kühlschrank und ein paar Staumöglichkeiten.
Mit Windeln, Sonder-Lebensmitteln, Klamotten für 7 Tage, Schwimmzeug, Büchern und vielem mehr wurde es schon knapp. Aber auf die großartige und pragmatische Hilfe des Hotels war Verlass: Wir konnten einen Teil des Gepäcks, das wir erst später brauchen würden dort einlagern und auch die Windelpakete blieben im Hotel und wurden von den Guides zwischendrin abgeholt, wenn wir neue brauchten.
Unseren Wagen richteten wir dauerhaft als „Kinderzimmer“ ein. Das Doppelbett blieb ganztägig ausgeklappt. Eine Tagesdecke drüber, Spielzeuge, MP-3-Player und Kuschelkissen für Finja drauf: Fertig war das rollende Spielzimmer.
Mit dem Pferd durch die Puszta
Und dann ging es los: Wir bekamen das langsamste Pferd namens „Dschenge“, welches aber richtig viel Kraft hatte um eine 5-köpfige Familie zu ziehen. Das Anschirren und Kutschieren wurde uns in den ersten Tagen gezeigt, auch Füttern und Wasser-Geben brachte man uns bei.
Über die Route brauchten wir uns keine Gedanken zu machen. Auf dem ersten Wagen war immer ein Führer – und die Pferde kannten die Strecke ohnehin. An schwierigen Stellen, engen Kurven oder beim Einfahren in öffentliche Straßen waren immer ein paar Helfer bei den Wagen zur Stelle, die entweder auf den Wagen oder am Straßenrand unterstützten.
2-6 Zigeunerwagen fahren pro Trek hintereinander. Gerade die Kinder im späten Kindergarten- und Grundschulalter finden so meist andere Kinder im Trek und wenn die Erwachsenen sich gut verstehen, so steht stimmungsvolle Abende mit Wein und Mücken nichts im Wege. Dennoch hat jeder seinen eigenen Wagen und somit sein eigenes Reich.
Unser Weg war abwechslungsreich: Mal fuhren wir auf asphaltierten Bundesstraßen durch endlose Weiten von Feldern, dann wieder durch kleine Akazien-Wälder auf Sandwegen.
Nach einiger Zeit mussten wir immer anhalten: „PFÄRDÄÄÄ WASCHEN!!“ schallte es von vorn und so griffen wir nach Schwamm, Eimer und Wasserkanister um dem Pferd Kühlung zu verschaffen. „Schwamm-Dusche“ nannte es der Guide ganz pragmatisch. Er sprach hervorragend deutsch, während die Kommunikation mit den anderen Begleitern doch eher mit Händen und Füßen stattfand.
Jeden Abend fuhren wir die Koppel eines Pferde-Hotels oder eines Bauernhofes an. Hier bekamen die Pferde Heu und Hafer und wurden für die Nacht angebunden. JA – deutsche Vorstellungen vom Umgang mit Pferden sind etwas anders. Die Ungarn binden die Pferde für die Nacht fest und das war‘s. Sehr pragmatisch. Trotzdem war immer jemand da, der nachsah, ob es den Tieren gut ging und auch wir Gäste wurden immer sehr klar instruiert, worum wir uns kümmern müssten – denn füttern und tränken war unsere Aufgabe.
Freizeit
Auf den Höfen fanden wir unterschiedlichen Komfort vor. Vom authentischen Hof mit Plumpsklo und typischer Land-Küche bis hin zum luxuriösen Pferde-Ferien-Ressort mit Whirlpool, Ungarn-Buffet, Trampolin, Outdoor-Schach und den Möglichkeiten an Shows und Reit-Unterricht teilzunehmen reichte die Spannweite.
Jeden Tag konnten wir individuell entscheiden ob wir Kochen und bei den Wagen essen wollten – oder ob wir die sehr preisgünstigen Angebote der Höfe und Hotels nutzen wollten. Wir haben den Herd nicht ein einziges Mal benutzt. Unser deutschspachiger Guide bekam von uns die „Bitte an den Koch“ auf ungarisch und deutsch mit. Darin wird für Köche erklärt, welche Lebensmittel unsere Tochter essen kann und welche nicht. Sehr praktisch im Ausland. Unser Führer arrangierte es jedes Mal, das unsere behinderte Tochter auch ein leckeres glutenfreies Gericht bekommen konnte.
Viel Zeit für Besichtigungen oder so blieb nicht. Tagsüber fuhren wir ein paar Stunden mit den Wagen, auf den Höfen fanden wir fast immer eine Pool vor in den den Kinder sofort verschwanden. Wir Erwachsenen schnappten uns ein Buch oder legten uns einfach in die Sonne.
Ich glaube, ich habe noch nie so entschleunigte Ferien erlebt.
Fazit
Diese Art von Urlaub war einfach großartig für uns alle. Die Kinder konnten miteinander und den anderen Kinder spielen. Unsere behinderte Tochter genoss es im Wagen hin und her geschaukelt zu werden. IM Wagen hatte sie immer die gleiche Umgebung. Die Tagesabläufe waren auch regelmäßig. AUSSERHALB des Wagens gab es immer etwas Neues zu sehen und zu entdecken.
Wenn Finja nicht mehr wollte oder gnatschig war, dann hinderte das den Rest der Familie nicht daran einfach weiterzumachen. Finja konnte sich in ihr Reich zurückziehen.
Die anderen konnten kutschieren, neben dem Wagen herwandern oder bei ihren neuen Freunden mitfahren. Oft hatten wir auch Spaß daran, hinten bei Finja zu sitzen, etwas zu lesen oder aus dem Wagen raus zu schauen. Uns Erwachsenen genügte es aber, einfach vorne zu sitzen und die Landschaft an uns vorbei ziehen zu lassen … Alles in allem: Großartige Ferien.
Wiederholungs-Täter
Schnell war beschlossen: Wir kommen wieder! Und das taten wir. 2017 fuhren wir dieselbe Tour noch einmal – einfach weil es schön war und alle bekommen hatten, was sie zum Ferien-Glück brauchten. Weil es so einfach war Finja dabei zu haben. Und weil die ungarischen Gastgeber sich einfach unglaubliche Mühe gaben unsere besonderen Bedürfnisse zu erfüllen.
Während der zweiten Tour feierte meine Große ihren 13. Geburtstag in
sengender Hitze mitten während dieser Tour – und unser Führer brachte es fertig die weltbeste, glutenfreie, schokoladigste Schokoladen-Torte zu beschaffen und zum Wagen zu liefern, ohne dass sie schmolz: Wir haben ungelogen noch NIE eine so großartige glutenfreie Torte gegessen!
Mein Fazit: Urlaub mit Allen geht! Es ist absolut möglich allen gerecht zu werden.
- Mein Mann fand Zeit ein paar Seiten in seinem Buch zu lesen. Das Füttern der Pferde war ungeahnt meditativ. Finjas Geschwister bekamen ihr Abenteuer – manchmal mehr als gewünscht.
- Ich genoss den warmen, kontinentalen Sommer, die Unmengen von Früchten auf den Bäumen, den langsamen Rhythmus der Fahrtentage. Einfach Nichts-Tun.
- Die Kinder liebten die Freiheit. Sobald wir hielten sprangen sie von den Wagen, griffen Schwimmzeug oder Frisbee, zogen los … und wenn sie müde wurden, fielen sie in ihre Kojen.
- Und Finja? Finja war ungewöhnlich ruhig und kooperativ. Niemand wollte etwas von ihr. Niemand erwartete, dass sie „funktioniert“, „mitmacht“, „lieb ist“.
Es war gewiss nicht das letzte Mal, dass wir mit dem Planwagen Urlaub machen. Das Gefühl von Freiheit und gleichzeitig Sicherheit durch die kundige Führung hat uns überzeugt. Wenn mit unseren Kindern irgendwas gewesen wäre, hätte man uns innerhalb kürzester Zeit nach Budapest bringen können und für alle Fragen und Probleme hatte unser deutschsprachiger Führer eine Lösung.
Es ist eine sehr entspannte Art des Reisens – mit einem Hauch Abenteuer, Pferden, Natur und einer Umgebung, die an die idealen Sommer einer längst vergangenen Zeit erinnert … Eine Mischung aus Uhlenbusch und Bullerbü.
Dies war der erste Artikel aus meiner Blogreihe „Außergewöhnlich gut reisen“. Über die Erfahrung mit den beiden Geschwisterkindern allein zu fahren und unsere behinderte Tochter zurück zu lassen berichte ich nächste Woche, denn 2018 machten wir einen ganz anderen Urlaub: Wir reisten OHNE unsere 47er-Tochter. Um die Reise-Bericht-Reihe zu vervollständigen, findet ihr anschließend einen Artikel über unseren „Urlaub mit Babysitter“ aus dem Jahr 2014. Abschließend werde ich die verschiedenen Möglichkeiten des Reisens in einem Schlussbeitrag zusammenfassen. Wenn ihr einen Gast-Artikel über eure Reiseerfahrungen beitragen mögt, schreibt mir einfach.
Über Rückfragen und Kommentare freue ich mich sehr. Bitte berücksichtigt, dass ich Kommentare erst freischalten muss, da ich eine redaktionelle Verantwortung habe. Gerne könnt ihr mir auch über das Kontaktformular schreiben. Ich freue mich auf Eurer Feedback!
Begriffe
46er Kinder
Finja hat aufgrund des Down-Syndroms 47 Chromosomen in jeder Körperzelle. Ihre Geschwister haben den normalen Chromosomen-Satz von 46 Chromosomen. Daher unterscheiden wir gern in 47er-Kinder – also Kinder mit Chromosomen-Anaomalie- und 46er-Kindern – also jenen mit normalem Bausatz. Zurück zum Text