Inklusion ist eben nichts für jeden …
Inklusion ist eben nichts für jeden …
Zufrieden nickte man einander zu . Es waren Fachleute, die zufällig bei einer Party zusammen gekommen waren: Die Förderschullehrerin, die sich mit Begeisterung für „ihre Kinder“ einsetzte, ein Integrationshelfer, die desillusionierte Grundschullehrerin und die Heilpädagogin eines integrativen Kindergartens.
Man habe sich ja redlich bemüht, hatte die Lehrerin der Regelschule betont. Bei Körperbehinderten sei das ja irgendwie noch machbar – wenngleich es mit den Räumlichkeiten schwierig bleibt. Aber schon Blinde oder hörgeschädigte wären ja eine echte Herausforderung. Unzumutbar für den Lehrerstand: Ständig unterschiedliche Bewertungsschemata anlegen, Arbeitsblätter in mehreren Varianten anzufertigen und gar Klassenarbeiten unterschiedlich zu konzipieren!
In der ersten und zweiten Klasse ginge das ja noch, aber spätestens wenn es dann auf die Vorbereitung für die weiterführende Schule zugehe, wäre die ganze Sache ja doch zum Scheitern verurteilt. Und dann noch die emotional gestörten Kinder! Die Autisten! Die könne man ja kaum händeln. Und überhaupt könne man von einem Grundschullehrer wohl kaum verlangen sich noch mit allenmöglichen Syndromen und Krankheiten zu befassen.
Der Angestellte des gemeinnützigen Vereins, der seine Brötchen damit verdient zur Inklusion verdammte Kinder am Vormittag in der Schule zu betreuen und am Nachmittag geistig Behinderte ins Kino zu begleiten nickt wissend: Selbständig leben sei zumindest bei den geistig Behinderten eine Illusion. Die wissen ja auch gar nicht, was für sie wirklich gut ist und da müsse man vielen von denen schon klare Vorgaben machen. An und für sich brauchen „die“ ja ganz spezielle Angebote und das könne man doch in Einrichtungen viel besser leisten.
Die Förderschullehrerin hat bei dem ganzen Vortrag beipflichtend genickt. Sie hat ja immerhin jahrelang studiert und weiß genau, was „diese Kinder“ brauchen. Das könne doch ein Regelschullehrer so schnell gar nicht lernen! Da ist ja viel mehr Therapie und Anleitung zu Alltagspraktischen Fertigkeiten nötig! Wie das denn bitteschön in der regulären Grundschule nebenan funktionieren solle?? Insbesondere in großen Klassen seien viele ihrer Schützlinge definitiv überfordert – diese Behindertenrechtskonvention sei ja wohl der totale Schwachsinn.
Am Allerschlimmsten aber sei ja wohl das Wahlrecht der Eltern! Die wüssten doch gar nicht, was sie ihren Kindern da antäten!
Richtig! Der Integrationshelfer nickt eifrig: Was da auf dem Schulhof an Mobbing abgehe, das könne sich von den Eltern keiner vorstellen.Die Behinderten müssten ja auch geschützt werden!
Plötzlich bekommt die Grundschullehrerin Schnappatmung: Und was sei mit den ganz normalen Kindern?? Die leistungsbereiten und freundlichen Kinder seien es doch am Ende, die bei dem ganzen Zirkus hinten runter fallen!
Jetzt mischt sich auch die Heilpädagogin ein: Inklusion sei aber ja doch irgendwie eine schöne Idee gewesen – aber gerade im Kindergarten sieht man ja auch, dass die anderen Kinder doch irgendwie geschützt werden müssten. Es könne sich doch nicht immer alles um die Bedürfnisse der gehandicappten Kinder drehen!
Letztlich, so argumentiert sie, müsse das ganze immer gut abgewogen werden: Es gibt ja wirklich Behinderte, die von Inklusion profitieren – aber eben nicht alle! Da müsse man ganz genau hinschauen, welchen eingeschränkten Kindern die vielen Reize und die großen Klassen zugemutet werden könne. Einige Kinder müssten ja sogar noch gewickelt werden, dafür gäbe es ja auch in den Schulen gar keine Räumlichkeiten. Und andere seien ja noch so unselbständig! Sie denke da z.B. an ein Kind mit Down Syndrom – wenn das in einem normalen System nach der Stunde seine Sachen zusammensuchen müsste, dann trödele es so rum, dass es frühestens Mitte der nächsten Stunde im nächsten Klassenzimmer ankommen würde. Abgesehen von der mangelnden Einschätzung von Gefahren! Wolle man denn jetzt alle Schulen komplett einzäunen um die Sicherheit zu gewährleisten?
Auf der anderen Seite bietet eine normale Schule natürlich vielen Kindern einen Lern- und Entwicklungsraum. Das müsse man ja auch sagen. Und einige Kinder seinen ja durchaus integrationsfähig.
Jetzt nicken alle erleichtert: Jaaaa – einige Kinder profitieren schon. Und da macht man sich ja auch gern ein bisschen Mühe. Aber für viele Kinder sei es eben auch eine Überforderung. Die finden sich nicht zurecht. Und die haben ja in Wirklichkeit auch nix davon. Nur die Eltern bekommen eine Illusion von Normalität, die nicht real ist. Aber die wollen das ja nicht sehen.
Aber einige Kinder … ja … einige Kinder könne man schon inklusiv beschulen. Trotzdem: Inklusion ist nun einmal nichts für jeden!
Manchmal möchte ich Schreien! Über so viel DUMMHEIT, die von Leuten ausgeht, die doch eigentlich eine Ausbildung, womöglich sogar ein Studium absolviert haben! Hat diese Diskussion wirklich stattgefunden? Jain. Das Gespräch hat so und in dieser Konstellation nie stattgefunden, die Charaktere sind fiktiv. Und dennoch: Ich habe nur verdichtet zusammengeschrieben, was ich als Pädagogin und Aktive innerhalb von Schule und Einrichtungen zigmal gehört habe. Keiner dieser Sätze ist erfunden und Gespräche wie dieses musste ich oft genug in Lehrerzimmern, auf Partys oder andernorts mithören – oft wusste man nicht, dass ich selbst nicht nur Pädagogin, sondern auch betroffene Mutter bin. Und so höre ich es immer wieder: „Inklusion ist nunmal nichts für jeden!“.
HALLO?? Wer spricht denn da? Sind das wirklich Leute die sich jemals mit inklusiver Pädagogik befasst haben? Also – auf einem Niveau jenseits vom Stammtisch? Womöglich mal in einem Seminar oder durch ein paar gute Bücher oder auch nur Aufsätze zum Thema? DAS sollen unsere Fachleute und Experten sein??
Zugegeben: Man kann Inklusion ablehnen. Man kann daran zweifeln ob Inklusion machbar ist. Man kann überlegen, ob die Inklusion bereits weit genug fortgeschritten ist um auch schwächere oder unbequeme Behinderte in die Mehrheitsgesellschaft zu inkludieren Aber wer behauptet Inklusion sei nichts für jeden und da müsse man abwägen, der zeigt schlicht und ergreifend, dass er nicht weiß wovon er spricht.
Der Begriff INKLUSION ist eben NICHT identisch mit dem Begriff INTEGRATION. Integration setzt ein System voraus, in das Menschen durch Unterstützung und Kompensation ihrer Behinderung hineingeholt werden, die ansonsten draußen bleiben müssten.
Im Bereich von Integration kann man tatsächlich sagen, dass es Menschen mit viel oder wenig Unterstützungsbedarf gibt, und dass es nur schwer möglich ist allen Menschen Zugang zu Gruppen und Einrichtungen zu geben, die ansonsten unverändert bleiben. Integration beinhaltet, dass sich nicht die Mehrheitsgesellschaft verändert, sondern der Unangepasste eben „passig gemacht“ wird.
INKLUSION meint etwas anders: Inklusion bedeutet, nicht von den Systemen und den Einrichtungen her zu denken, sondern von den Menschen her. Die Kinder müssen nicht für eine Schule „zugerichtet“ werden, in die sie passen sollen, sondern es muss eine Schule konzipiert werden, die ein Lernraum für die Kinder ist, die sie besuchen.
„Inklusion ist nichts für jeden“ – dieser Satz ist so himmelschreiend falsch, weil Inklusion gerade dadurch definiert ist, DASS sie eben ein Umfeld schafft in dem JEDER wahr- und ernstgenommen wird
Richtig ist: Unsere Gesellschaft hat kaum Erfahrung im Umgang mit Behinderten in Regelschulen.
Richtig ist: Es gibt Behinderte, die wenig eingeschränkt sind und welche mit schwer oder gar nicht kompensierbaren Handicaps.
Richtig ist: Das gegenwärtige Schulsystem ist eine Zumutung für viele Behinderte.
ABER richtig ist auch: Das gegenwärtige Schulsystem ist eine Zumutung für viele Nicht-Behinderte.
UND richtig ist auch: Es gibt auch unter normalen Schülern welche die wenig oder besonders gut führbar und belehrbar sind.
UND richtig ist auch: Unsere Gesellschaft hatte in sehr vielen Dingen keine Erfahrung, ehe die gesellschaftlichen Ansichten revidiert wurden.
Ein ähnliches Gespräch, wie das oben skizzierte, hätte im 19. Jahrhundert die Integration von Mädchen in Gymnasien oder die Zulassung von Frauen zum Studium geführt werden können. Damals war man auch der Auffassung, weibliche Schüler bräuchten ein besonders geschütztes Umfeld, in einer Männergesellschaft würden sich Frauen ja eh nicht wohl fühlen und es wäre zu ihrem eigenen Besten sie auf Strickkreise und Töchterschulen zu beschränken. EINIGE Frauen könne man vielleicht zu EINIGEN Studiengängen zulassen …., aber bitteschön dann irgendwas mit Kunst oder Musik, wo sie nicht stören ….
OOH JA – auch ich habe ein behindertes Kind. Und ja: Ich habe mein Kind nicht auf diesen Versuch von Inklusion in unserem System losgelassen. Mein Kind ist in der Tat in einer behütenden Umgebung und profitiert von Therapien, Experten und Fachfrauen, die wirklich kompetent sind.
Ich bin der Idee von Inklusion untreu geworden. Zum Wohle meines Kindes. Aber nicht weil ich nicht an die Inklusion glaube! Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass Inklusion funktionieren kann. Ebenso wie ich davon überzeugt bin, dass Schule funktionieren könnte. Dass es möglich sein sollte, dass Kinder UND Lehrer GERN in Schulen gehen.
Aber die Realität sieht anders aus: Wir HABEN keine Inklusion. Und wir haben noch nichtmal ausreichend Fachleute, die wirklich Inklusion umsetzen wollen. Und wir haben zwar eine politische Wunschvorstellung, aber keine Willensbekundung, die sich auch in Geld ausdrücken lässt.
Fakt ist: Unsere Schüler lernen oft in maroden Räumlichkeiten, mit Lehrern die ständig wechseln weil die Kollegien unterbesetzt sind und die Lehrkräfte aufgrund von Überlastung ständig krank.
Fakt ist: Die Idee schwache, behinderte oder in ihrem Verhalten anstrengende Schüler zu inkludieren würde voraussetzen, dass man sich am individuellen Bedarf der Person, der Schülerschaft, des Ortes orientiert.
Wenn wir Bildung und Teilhabe wirklich ernst nähmen und davon ausgingen, dass dies ein Menschenrecht ist. Wenn wir wirklich Inklusion und die Beteiligung aller Menschen wollten – dann müssten wir GELD, ZEIT UND AUFMERKSAMKEIT investieren.
DANN müsste man Lernräume GESTALTEN, die den Lernenden entsprechen. Mit Räumlichkeiten, die zum Lernen aber auch zum Leben einladen. Mit inklusiven Kollegien, die aus Fachlehrern, Förderlehrern, Therapeuten, Schulkrankenschwestern, Inklusionsassistenten und anderen Berufen bestünden.
Ich bin davon überzeugt: Nicht die Inklusion hat versagt bei ihrer Einführung in die Gesellschaft, sondern die Gesellschaft hat versagt bei der Einführung von Inklusion.
Und letztlich würden wir alle profitieren: Denn wenn ein System für unsere behinderten Kinder als unzumutbar gilt – wieso soll es dann für unsere Regelkinder zumutbar sein? Etwas wovor wir „die schwächsten Kinder“ schützen müssen, kann doch für die „normalen Kinder“ nicht gut sein?
Ich glaube: Um wirklich Inklusion zu leben muss Schule neu gedacht werden! Es geht darum Teilhabe zu ermöglichen. Nicht darum, dass alle dasselbe erreichen. Nicht darum die Menschen „anzupassen“. Sondern darum, dass jeder das erreichen kann, was ihm oder ihr möglich ist. Gemeinsam mit Menschen, die andere Ziele erreichen können.
Nein – ein inklusives Schulsystem meint nicht, dass die meisten Kindern normalen Unterricht haben und die behinderten durch ihre Hilfskräfte, Assistenten oder „In-der-Ecke-malen“ beschäftigt werden. Es meint, dass der hochbegabte Schüler ein Gedicht analysiert, während andere Schüler es auswendig lernen und einige Schüler das Gedicht nutzen um Rhythmik in der Sprache zu erkennen oder Reimworte zu finden oder tatsächlich den Inhalt des Textes als Bild widergeben.
Es meint, dass alle zusammen an einem Plakat über „Tiere im Winter“ arbeiten können: Der Junge mit Down Syndrom malt ein Eichhörnchen-Bild aus, ein paar Mädchen recherchieren Ernährung und Winterschlaf von Waldtieren und der Autist mit einer Inselbegabung für Mathe fertigt eine Tabelle der Eichhörnchen-Population innerhalb der vergangenen 50 Jahre an.
Es kann aber auch heißen, dass für alle Schüler Rückzugsräume und Einzelarbeitsplätze zur Verfügung stehen. UND für alle Schüler Begegnungsräume, wie Schulhof oder kleinere und größere Aufenthaltsräume in den Schulen.
Inklusion bedeutet, auf den Menschen zu schauen. Und wenn mir dann jemand sagt „Inklusion ist nichts für jeden“, dann ist das schlicht und ergreifend falsch. Es bewertet nämlich Menschen nach dem Kriterium ob es sich „lohnt“ seine Bedürfnisse wahr- und ernstzunehmen. Ob es „machbar“ ist innerhalb des „gegebenen Systems“.
Und NEIN! Es ist NICHT machbar innerhalb des „gegebenen Systems“. Denn Inklusion setzt voraus, dass das System eben nicht gegeben ist – sondern das System sich den Bedürfnissen derer anpasst, die in ihm Leben.
Diese Vorstellung von Inklusion kann man unterstützen. Man kann sie teilen. Man kann für sie kämpfen. Aber man kann sie auch ablehnen. Und ja – vielleicht kann man in diesem Sinne sogar wirklich sagen: „Inklusion ist eben nichts für jeden ….“.
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