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Mehr ICH für MICH – und Unabhängigkeit für mein Kind


Von kleinen Freiräumen bis zum Urlaub ohne Kind

Freitag habe ich Finja ins Kiola gebracht. Morgen fliege ich mit meinem Mann in Urlaub. Eine Woche. Das erste Mal seit 20 Jahren sind wir nur zu Zweit unterwegs. Schon jetzt genießen wir das Wochenende: Wir packen nur für uns selbst. Kein Mental Load bezüglich der Kinder. Keine Sorgen um sie. Finja kennt das Kurzzeit-Wohnheim schon seit über einem Jahr von regelmäßigen Wochenenden und hat schonmal eine Woche dort verbracht. Die Patentante hat eine Vollmacht für den Fall, dass Unvorhergesehenes passiert und holt sie am Ende der Woche ab, um sie noch 2 Tage zu betreuen, bis wir wieder da sind.

Noch vor 2 Jahren wäre das auch für mich kaum vorstellbar gewesen. Inzwischen nutzen wir wirklich alle finanziellen Möglichkeiten der Entlastung. Ich erzähle das nicht um irgendwen neidisch zu machen. Oder vielleicht doch? Denn manchmal kann genau das der Antrieb sein, gut für sich selbst zu sorgen. Vielleicht will ich aber auch nur sagen: Es IST möglich! Es ist möglich eine gute Mutter zu sein UND Zeit für sich zu haben. Vielleicht ist es sogar NÖTIG. Denn um ehrlich zu sein: In den Jahren, in denen ich rund um die Uhr für meine Kinder da war, habe ich mich oft irgendwie selbst verloren. War nicht die Marion, die ich eigentlich bin – und von der ich mir wünsche, dass meine Kinder sie kennenlernen.

Stress ist nicht nur Gift für unseren Körper, sondern auch für die Beziehungen in unserem Leben.

Und so habe ich angefangen mit kleinen Auszeiten. Zunächst habe ich die Verhinderungspflege genutzt, dann den Entlastungsbetrag dazu genommen, schließlich Eingliederungshilfe beantragt.

Ich habe ein Netzwerk um uns herum aufgebaut. Und genau das ist so wichtig. Und der Trick ist: Je früher ihr beginnt, desto leichter ist es.

Viele Mütter sagen mir: „Ich komme schon zurecht!“ oder „Ich weiß nicht, wen ich um Hilfe bitten kann!“ oder „Mein Kind ist doch keine Belastung – ich will es nicht wegorganisieren!!“.

Aber es gibt 4 Gründe, um mit Betreuung anzufangen, EHE man nicht mehr zurechtkommt oder die Behinderung des Kindes zur Belastung wird.

Grund 1: Deine Gesundheit und Dein Leben.
Wer früh damit anfängt sich wieder kleine Freiräume für sich zu nehmen – Sport, Hobbys, Freunde – der bleibt länger gesund und fit.

„Wir pflegen nicht nur 6,7 Jahre (wie die meisten Pflegepersonen), sondern Jahrzehnte! Das ist ein Marathon und kein Sprint!“ betone ich immer wieder in meinen Kursen. Auch wenn Du ein belastbarer, resilienter, energiegeladener Mensch bist – die Aufgaben als Special-Needs-Mom oder -Dad sind vielfältig. Die emotionalen Herausforderungen, der Mental Load, die vielen behinderungsbedingten To-Do’s.

Baut Euer Netzwerk auf, BEVOR ihr nicht mehr könnt. Denn oft geraten wir in eine Negativ-Spirale ohne dass wir es selbst mitbekommen. Ein solides Betreuungs- und Assistenz-Netzwerk ist Gold wert.

Und: Dies ist DEIN Leben. Es ist großartig, wenn Du es akzeptierst. Aber: Verzichte nicht darauf es im Rahmen der Möglichkeiten zu gestalten!

Grund 2: Deine Beziehung zu Deinen Kindern

Deine Kinder haben ein Recht darauf, die Person hinter der Mama und dem Papa kennenzulernen. In meinen Kursen erlebe ich oft, dass die Teilnehmerinnen selbst nicht mehr wissen, was sie mit einer freien Minute, einer freien Stunde, einem Freien Tag anfangen würden. Die „Feenliste“ ist eine meiner liebsten Übungen dafür. Du findest sie in meinem Blog. Klicke hier!

Es ist wichtig sich selbst nicht zu verlieren in dem ganzen Pflege-Wahnsinn, dem Behörden-Dschungel, dem Mental-Load der Care-Arbeit. Damit Du nicht nur eine gute Mutter sein, sondern Deinen Kindern auch als Mensch begegnen kannst. Und: Damit kein unbewusster Groll Eure Beziehung trübt.

Grund 3: Das Recht Deines Kindes auf Verselbständigung

Regel-Kinder benötigen mit 6 keine Begleitung ihrer Eltern auf Spielplätzen, dem Schulweg, dem Kindergeburtstag. Mit 10 gehen sie allein zum Sport, können einen Snack zubereiten und mal einen Abend allein zu Haus bleiben. Mit 16 organisieren ihren Alltag, ihre sozialen Beziehungen, ihre Freizeit und mit 20 sind sie emotional, sozial und organisatorisch in der Lage auf eigenen Beinen zu stehen.

Dein Kind mit Behinderung wird all‘ diese Dinge später, anders oder gar nicht erleben. Es kann vielleicht nicht allein auf Pfadfinder-Freizeit fahren, am Turnier-Wochenende des Handball-Vereins teilnehmen oder eine Ferienwoche bei der Oma verbringen. Es gibt vielleicht keinen Turnverein, keine Jugendgruppe, keinen Musik-Kurs wo es allein gut aufgehoben ist.

Aber: Unsere Kinder haben ein Recht ihr EIGENES Leben – wie auch immer es aussehen mag – ohne die ständige Anwesenheit von Mama und Papa zu gestalten. Unser Erziehungs-Auftrag ist bei unseren Kindern mit Beeinträchtigung ANDERS als bei unseren Regelkindern. Wir erziehen sie nicht zur Selbständigkeit, sondern zur assistierten Selbständigkeit.

Unsere Kinder werden im Kleinen oder im Großen, zeitweise oder dauerhaft Menschen brauchen, die ihnen helfen das zu tun, was sie tun möchten. Ihr Leben zu bewältigen. Und ja – auch mal Quatsch zu machen, den man mit den Eltern nicht machen würde.

Verhinderungspflege, Freizeit-Assistenz, Alltagsbegleitung und selbst die Kurzzeitpflege haben nichts mit „Abschieben“ zu tun. Ja – wir brauchen Freiräume für uns! Aber: Unser Kind braucht auch Freiräume VON uns! Finjas Assistentinnen ermöglichen ihr so viele neue Entwicklungs-Räume. Einfach weil sie anders sind als ich. Andere Interessen, Ansätze, Herangehensweisen haben.

Und Finja lernt im Umgang mit ihnen, wie sie mit Hilfe von Assistenz ihre Wünsche umsetzen, ihr Leben selbstbestimmt gestalten kann. DAS ist mein Erziehungs-Ziel für mein kognitiv schwer beeinträchtigtes Mädchen. Die Assistentinnen haben Zeit mit ihr Hobbys zu erkunden, geduldig 20 Minuten daneben zu stehen wenn sie selbst ihre Schuhe anzieht, alltagspraktische Tätigkeiten zu erlernen und herauszufinden, was Finja – ihre Arbeitgeberin – wünscht und braucht.

In der Kurzzeitpflege kann sie das erleben, was andere Kinder beim Übernachtungsbesuch bei Oma und Opa oder beim Sleep-Over im Freundeskreis kennenlernen: Mal eine Nacht von zu Hause weg sein. Mit Gleichaltrigen anderswo übernachten. Mit unterschiedlichen Betreuenden zurechtkommen. Urlaub von Mama und Papa machen.

Und ganz nebenbei: Das zu üben, wenn noch keine Krise eingetreten ist, schafft Sicherheit für uns und unser Kind. Denn: Wenn wieder eine Pandemie kommt oder ich vor einen Baum fahre, das Haus brennt oder mein Mann einen Herzinfarkt bekommt, dann gibt es einen Ort an dem Finja gut aufgehoben ist. Menschen, die ihre Gewohnheiten und Bedürfnisse durch regelmäßige Besuche „ohne Not“ kennen. Betreuer, die sie in einem Notfall jederzeit übernehmen können. Und das ist ein verdammt gutes Gefühl.

Dein Kind hat ein Recht darauf, sichere Orte außerhalb des Elternhauses zu erleben. Zu wissen, zu erleben, zu lernen, dass es klarkommt – auch wenn die Eltern mal nicht für es sorgen können.

Grund 4: Netzwerke brauchen Zeit zum Wachsen – und wachsen mit!

„Aber sie ist noch noch so klein!“, „Bisher kommen wir zurecht!“, „Eigentlich ist sie ja noch ein fast normales Kind!“. Ja! Absolut! Und genau das ist eine große Chance: Gerade wenn Dein Kind klein, süß, pflegeleicht ist, solltest du Anfangen Dein Betreuungs-Netzwerk aufzubauen und zu pflegen.

Denn: Je älter Dein Kind wird, desto schwieriger wird es Betreuungskräfte zu finden. Nicht weil es niemanden gibt, der das könnte – sondern weil die Menschen es sich nicht mehr zutrauen.

Ein Baby oder Kleinkind zu wickeln, macht den wenigsten Menschen Mühe. Herausforderndes Verhalten bei einem Vierjährigen ist zwar anstrengend – aber für ein paar Stunden erträglich. Das Umlagern einer 8jährigen ist kein großes körperliches Probleme

Aber wenn Dein Kind mit 14 noch Windeln trägt oder mit 16 noch eine besondere Art des Umgangs braucht um Herausforderndes Verhalten zu vermeiden, mit 18 umgelagert werden muss – dann wird’s verdammt schwer NEUE Kräfte zu finden.

Wir alle wachsen als Eltern mit unseren Kindern. Wir wachsen in die Herausforderungen der jeweiligen Behinderung hinein. Und es ist hilfreich, wenn unsere Betreuungs-, Assistenz-, Entlastungskräfte MITWACHSEN können.

Deswegen ist es so wichtig, frühzeitig zu beginnen. Bindungen und Beziehungen aufzubauen, die im Sandkasten gründen und für unsere Kinder nach und nach so etwas wie ihre „professionelle Familie“ werden. Denn: Mit den Jahren entwickelt sich eine besondere Vertrautheit, ein wortloses Verständnis. Zwischen Betreuuenden und Betreuten – aber auch zu den Angehörigen.

Fremde Menschen in der Wohnung – das ist für viele ein Graus! Ein Bruch der Privatsphäre. Das LETZTE was man jetzt auch noch als sowieso schon gestresste Mama braucht. Ich sage Dir: Diese Menschen bleiben keine Fremden. Die Haushaltshilfe ist nach 10 Jahren Teil der Familie. Die junge Assistenz-Kraft, die als 16jährige bei Euch angefangen hat ist 10 Jahre später eine kompetente junge Frau, die immer noch gelegentlich VHP macht, obwohl sie das Geld längst nicht mehr braucht – einfach weil man sich kennt und mag und da eine Beziehung ist.

Und: Diese Kräfte „der ersten Stunde“ sind wie Sauerteig: Wenn Du irgendwann mehr Assistenten, Pflegekräfte, Betreuer brauchst, dann sind sie es, die Gold wert sind! Bitte sie Deine Stellenanzeige in ihrem WA-Status zu posten, in ihren Ausbildungs-Stätten auszuhängen oder ihren Freundeskreis zu fragen. Menschen, die in den letzte Jahren gut mit Deinem Kind ausgekommen sind, kennen andere, die mutmaßlich gut mit Deinem Kind auskommen werden. Und: Sie MÖGEN Dein Kind und ermutigen andere Dein Kind kennenzulernen. Sauerteig eben … Jeder Netzwerkpartner hat mindestens 3 weitere Kontakte, die Dein Netzwerk verstärken könnten …

So … und mit diesen Worten schließe ich und fahre in Urlaub. Mit meinem Mann. Das erste Mal allein nach 20 Jahren. Ich weiß noch, wie sehr ich es genossen habe, das erste Mal nach 4 Jahren Baby-Zeit allein aufs Klo zu gehen. Das erste Mal wieder einen halben Tag allein in der Wohnung zu sein. Ein Wochenende ohne Kinder wegzufahren.

Ich weiß wieviel Mut es kostet sein Kind das erste Mal mit dem Babysitter allein zu lassen. Es das erste Mal mit der Assistenz einen Ausflug machen zu lassen. Es ein Wochenende in die Kurzzeitpflege zu geben.

Aber ich kann heute sagen: Es hat sich gelohnt! Ich bin wieder gesund und tatkräftig und spüre mich selbst. Ich mag mich selbst wieder leiden. Und Finja? Sie ist so viel selbstbewusster, selbstbestimmter und auf ihre ganz besondere Weise auch „erwachsener“ geworden. Sie ist kein Kind mehr. Sondern ein kognitiv schwer beeinträchtigtes junges Mädchen mit eigenen Wünschen, Ideen und freundschaftlichen Beziehungen. Beziehungen zu bezahlten Kräften – die aber dennoch persönlich, verlässlich und vertrauensvoll sind. Und die mehr sind als eine reine Arbeits-Beziehung – das merke ich an der Freude, die beide Seiten im Umgang miteinander haben.

Finja hat gelernt sich auf unterschiedliche Menschen einzulassen. Zu zeigen, was sie will – und was sie nicht will und herauszufinden was sie mag und was ihr Freude macht. Sie kann ihr Leben mit Assistenz aktiv gestalten.

„Wurzeln und Flügel“ solle man Kindern geben, sagt man. Und während unsere Regelkinder ihre Flügel auf Sportplätzen, in Kindergruppen und bei Übernachtungsbesuchen ausprobieren, sind die Flügel unserer Kinder mit Beeinträchtigung vielleicht eher wie Heißluftballons mit Führer … aber hey … Hauptsache sie können fliegen, oder?

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