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Assistenz oder Babysitter?

Aus dem Babysitter-Mindset herauswachsen!

Irgendwann war sie kein Baby mehr. Finja wuchs mit Down-Syndrom und Autismus auf. Sie wurde älter – und brauchte weiterhin Betreuung. Egal ob Hobby, Einkauf oder eigene Termine: Ich brauchte immer einen Babysitter …

Eines Tages merkte ich: Da passt irgendwas nicht! Es fühlte sich nicht mehr stimmig an, einen Babysitter zu bestellen. Auch die Geschwister waren ja längst keine Babys mehr. Vor allem aber: Unsere Wünsche und Bedürfnisse hatten sich gewandelt.

Denn: Ein Babysitter soll eigentlich ja nur beaufsichtigen, mit kleinen Kindern spielen und es den Eltern ermöglichen ihre Zeit freier zu gestalten.

Finja brauchte aber etwas anderes. Eine Person, die ihr half, die Dinge zu tun, die andere Kinder in ihrem Alter selbständig machen würden. Jemanden, der sie darin unterstützte eigene Freizeit- und Spielideen umzusetzen. Auf Augenhöhe. Wertschätzend. Finja-Zentriert.

Von da an buchten wir keinen „Babysitter“ mehr. Stattdessen bekam Finja nun eine „Assistentin“. Das war immer noch dieselbe Babysitterin wie früher – aber mit dem Begriff änderte sich auch ihr Selbstverständnis, unsere Beziehung und vor allem: Mein Mindset.

Nur Worte?

Betreuer, Babysitter, Assistenz, Aufsicht – macht es wirklich einen Unterschied, wie wir die Person nennen, die Finja begleitet, unterstützt und ja – auch pflegt – wenn wir als eigentliche Pflege- und Bezugspersonen nicht mehr können?

Ja! Denn Wording ist fürs Mindset wichtig. Denn ein „Babysitter“ soll Eltern eine „Pause“ geben. Aufpassen. Mit den Kindern spielen. Von einer Babysitterin wird allenfalls erwartet Kinderwindeln zu wechseln, Zähne zu putzen, Lego zu spielen und eine Geschichte vorzulesen. Und wenn die Kinder klein sind, dann passt diese Rollenbeschreibung.

Ich selbst habe erst als Finja 10 Jahre alt war realisiert, dass ich keine „Betreuung“ mehr will, sondern jemanden der Finja hilft die Dinge umzusetzen, die sie tun möchte. Ohne Mama spazieren gehen, Ohne Mama auf den Spielplatz. Ohne Mama ein Brot schmieren. Ohne Mama Baden. Also Dinge, die jedes ältere Kind „allein“ macht, aber die unsere Kinder nicht selbständig machen können.

Ich wollte auch keinen „Babysitter“ mehr. Zum einen, weil mein Kind ja kein „Baby“ mehr ist, aber auch weil ich nicht mehr wollte, dass die Geschwister, Freunde und wir selbst als Eltern sie weiterhin als „Baby“ betrachten.

Und ich wollte endlich wieder als eigenständige Person auf Familienfeiern gehen. Ohne mich mit meinem Mann abzusprechen wer unsere Tochter gerade zum Buffet begleitet, beaufsichtigt, zur Toilette begleitet. Ich wollte, dass Finja sich auf Familienfeiern oder im Urlaub ihren Bedürfnissen entsprechend verhalten kann – ohne dass wir als Eltern zuständig sind.

Finja sollte als eigenständige Person mit Assistenz zum Geburtstags-Frühstück ihres Großvaters kommen können. Und wenn sie keine Lust mehr hat mit ihrer Assistentin heimfahren. Ich wollte bei der Hochzeit meiner lieben Freundin keine Windeln wechseln, aufpassen dass sie keinen Saft auf das Tischtuch kippt und nicht das Buffet auf glutenfreie Nahrungsmittel scannen. Ich wollte, dass Finja herumlaufen, die Umgebung erkunden, tanzen oder in der Ecke sitzen kann – nach ihren eigenen Wünschen und ohne dass ich selbst zu kurz komme. All das kann eine Assistenz leisten. Es unserer Tochter ermöglichen selbstbestimmt an allem teilzuhaben, was normale Kinder eben allein machen würden – und uns damit eine Freiheit geben, die in unserem Lebensalter für Eltern jugendlicher Kinder normal ist. Der Wechsel der Bezeichnung für die Betreuung schafft diesen Unterschied. Während die meisten „Babysitter“ ihre Aufgabe in der „Beaufsichtigung“ sehen und einfach verhüten, dass „etwas Schlimmes passiert“, während die Eltern weg sind, versteht sich die Assistenz als jemand, der es Finja ermöglicht auf ihre Weise und in ihrem Tempo und entsprechend ihrer eigenen Wünsche am Leben in Familie und Freundeskreis teilzuhaben und eigene Freizeitwünsche zu verwirklichen.

Kein Baby mehr! Keine Baby-Mom mehr!

Heute ist Finja für unsere Familie eine geistig behinderte Jugendliche. Aber in dieses Mindset zu kommen und sie nicht einfach immer als „kleiner“ zu verstehen als sie eigentlich ist – das ist ein Prozess.

Die Gefahr, dass unsere Kinder von uns, Freunden und vor allem Außenstehenden einfach als „jünger“ wahrgenommen und so behandelt werden ist recht groß. Aber irgendwann sind sie keine Kinder mehr, sondern Jugendliche bzw. Erwachsene mit einem besonderen kognitiven Unterstützungsbedarf. Sie brauchen Menschen, die ihnen helfen sich zu strukturieren, zu kommunizieren, Freizeit zu gestalten etc9etera. Und diese Menschen sollen sie nicht bevormunden oder betreuen wie Kinder, sondern herausfinden, was die Wünsche der Person sind, die sie unterstützen sollen. Sie sollen Selbstwirksamkeit unterstützen und so das selbstbestimmte Leben fördern.

Und genau deswegen haben wir uns für den Begriff „Assistenz“ entschieden. Natürlich gibt es mir auch Freiheit, wenn die Assistenz da ist. Freiheit zu arbeiten, zu schlafen, in die Badewanne zu gehen. Aber: Es ist eine ANDERE Freiheit. Eine „normalere“ Freiheit. Nämlich genau die Freiheit, die ALLE Eltern von Teenagern genießen.

Finja kann nicht allein in ihrem Zimmer auf dem Handy daddeln, selbständig in der Stadt Eisessen oder ins Kino. Sie kann nichtmal allein im Garten sein oder sich ohne Aufsicht im Wohnzimmer beschäftigen.

ABER sie hat Freude daran gemeinsam mit ihrer Assistenz spazieren zu gehen, einzukaufen, Eis zu essen, Ausflüge zu machen. Oder ein Buch anzuschauen, Bilder zu malen oder ein Bad zu nehmen. Dinge, die normal entwickelte Kinder allein tun. Sie gestalten ihre Freizeit – und das gibt den Eltern von älteren Kindern und Teenagern einen natürlichen Freiraum.

Und genau DAS macht den Unterschied. Wir hängen nicht mehr in einer ewigwährenden Kinderzeit fest, haben nicht mehr das Gefühl „lebenslänglich“ Eltern eines Kleinkindes zu sein – sondern wir sind Eltern eines jungen Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, der in eine assistierte Selbständigkeit hineinwächst.

Assistenz ermöglicht Teilhabe und Inklusion – auch innerhalb der Familie

Unsere Tochter wird nie völlig selbständig im Sinne von „unabhängig von Betreuung“ sein. Aber unsere Tochter hat eigene Wünsche und Vorstellungen. Und die Aufgabe der Assistenz ist es, diese herauszufinden und es ihr zu ermöglichen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.

 „Volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe“ heißt es im Gesetz zur Selbstbestimmung und Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft (§1, SGB IX). Das ist es, was unseren Kindern zusteht. Das ist die Lebenswirklichkeit auf die wir sie vorbereiten wollen.

Unseren Regelkindern ermöglichen wir es, langsam in die Selbständigkeit hineinzuwachsen. Wir schicken sie auf Freizeiten, lassen sie bei der Oma übernachten, ermutigen sie allein mit dem Freund ins Kino zu gehen oder an einem Kindergeburtstag teilzunehmen. Damit sie eines Tages allein wohnen, selbständig Freundschaften pflegen, ihr Leben selbstbestimmt gestalten können. 

Unsere Söhne und Töchter mit Behinderung bereiten wir auf eine andere Lebenswirklichkeit vor. Auf ein Leben mit Assistenz und Betreuung. Und was könnten wir Besseres tun, als sie in ihrer Jugend schon erleben zu lassen, was „gute Assistenz“ bedeutet? Zu einer Zeit, in der wir die Kräfte noch selbst können und ihnen unsere Vorstellung von Assistenz vermitteln können.

Meine Tochter erlebt mit ihrer Assistentin, dass es Spaß macht von anderen Menschen als Mama und Papa begleitet zu werden. Sie übt mit ihr Wünsche auszudrücken und erlebt, dass die Zeit mit der Betreuerin „ihre Zeit“ ist. Und ich finde es toll, dass sie einen Anspruch entwickelt. Wenn ihre Assistentin kommt, ist Finja offen und neugierig und bereit etwas zu erleben. Und macht inzwischen sehr deutlich, ob sie spazieren gehen oder ein Buch anschauen will.

Schluss mit den Schuldgefühlen!

Für uns war dieser bewusste Begriffs- und Mindset-Wechsel ein Meilenstein. Er ermöglicht es uns als Eltern das Tandem Finja-und-ihre-Assistenz anders wahrzunehmen. Viele Eltern sagen mir, dass sie sich schuldig fühlen, wenn sie ihr Kind „abschieben“ oder sich „endlich nach mehr Freiheit“ sehen.

Aber es ist nach 5, 10 oder 15 Jahren NORMAL, dass wir wieder mehr Zeit für uns brauchen. Es ist normal, dass die Kinder aus dem Kleinkindalter entwachsen und wir mehr Freiraum bekommen.

Und deswegen ist eine Assistenz absolut kein „Abschieben“. Wir brauchen kein schlechtes Gewissen zu haben. Denn Assistenzkräfte sind einfach die Unterstützung, die unser Kind braucht, um auf seine eigene Weise selbstbestimmter, selbständiger und unabhängiger von den Eltern zu werden. SEIN Leben zu gestalten.

Und genau das ist es doch, was wir uns als Eltern für sie – und uns – wünschen.

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Ein Gedanke zu „Assistenz oder Babysitter?

  • Iqbal Karolina

    Hallo
    genau so ist es uns auch ergangen.
    Wir haben für unsere Tochter auch eine Assistentin.
    Das war eine gute Entscheidung.
    Es ist ein Schritt in die Selbstständigkeit, die auch unsere Kinder brauchen, halt mit einer Assistenz.
    Du hast es gut beschrieben.
    Toller Blogs
    Liebe Grüße aus Hamburg
    Karo,Aliya 13 Jahre

    Antwort

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