Für euch gelesen: 100 Fehler bei der Einstufung von Pflegebedürftigen – und was Sie dagegen tun können (aktualisiert)
Für euch gelesen:
100 Fehler bei der Einstufung von Pflegebedürftigen – und was Sie dagegen tun können
Artikel aktualisiert am 23.08.2020
„Spannender Titel!“ habe ich mir gedacht. Als Mutter eines behinderten Kindes habe ich selbst einige Erfahrung mit den GutachterInnen des Medizinischen Dienstes und den SachbearbeiterInnen der Krankenkassen. Darüber hinaus habe ich es als Special-Needs-Coach oft mit Eltern behinderter Kinder und Angehörigen erwachsener Pflegebedürftiger zu tun.
Und die kommen genau mit diesen Fragen zu mir: Wie funktionieren die Begutachtungen heute? Worauf muss ich achten? Was sollte ich vorbereiten? Nach der Begutachtung fragen sie, ob das Gutachten so richtig ist und ob wirklich der gesamte Hilfebedarf des Kindes korrekt aufgenommen wurde.
Dieses Buch hat mir bei der Beantwortung spezieller Fragen oft geholfen. Es gibt jedoch auch einige Aspekte, die zu kurz kommen, weshalb (noch) ein Stern zur vollen Punktzahl fehlt. Vielleicht ändert sich das in der nächsten Auflage? Doch zunächst zur Rezension der vorliegenden Version.
Pflegende Angehörige haben oft konkrete Fragen, wie z.B.:
- „Wird Inhalieren nach den neuen Kriterien der Pflegebedürftigkeit angerechnet?“
- „Ist ein Kind im Rollstuhl nicht immer unselbständig in der Bewegung?“
- „Was versteht man eigentlich unter ‚Mundgerechte Zubereitung’“?
Aber auch allgemeine Fragen beschäftigen die Angehörigen, für die so eine Begutachtung ja kein „Tagesgeschäft“, sondern eine „Ausnahmesituation“ ist.
- Wie läuft so eine Begutachtung ab?
- Was darf der Gutachter verlangen?
- Was können die Begutachteten und ihre Angehörigen erwarten?
- Was steckt hinter Begriffen wie „selbstständig“ und „unselbstständig“ eigentlich genau?
Hilfreiche Hintergründe und Antworten
Das Buch von Jutta König ist eine Fundgrube für diese Fragen und Themen und allein deshalb lesenswert. Kein Wunder: Die Autorin ist vom Fach. Als Sachverständige vor Gericht, Dozentin für das Sozialgesetzbuch, examinierte Altenpflegerin und ehemalige Pflegedienst- und Heimleitung weiß die Autorin wovon sie spricht. Kundig verbindet sie Fachwissen und ein tiefgehendes Verständnis für die gesetzlichen Grundlagen mit ihren praktischen Erfahrungen mit alten und behinderten Menschen. Diese hohe Fachkompetenz spricht eindeutig für das Buch.
Das Buch betrachtet 100 Fehler, die Pflegekräften (das sind Menschen, die beruflich pflegen) und Pflegepersonen (das sind pflegende Angehörige, die als Laienpfleger ihre Lieben betreuen) bei der Begutachtung machen können und erörtert typische Fehlannahmen.
Besonderen Wert legt die Autorin darauf, die Unterschiede zwischen dem alten Begutachtungssystem vor 2017 und dem neuen Begutachtungsinstrument, das seither gilt, darzulegen. Das ist gerade im Bereich der häuslichen Pflege besonders wichtig, weil manche Gutachter -vor allem aber auch Kassenmitarbeiter!- auch noch Jahre später die alten Vorstellungen von Pflegebedürftigkeit im Kopf haben.
Gerade kürzlich (im Frühjahr 2020) berichtete mir die Mutter eines behinderten Babys, ihre Krankenkasse habe ihr die (völlig veraltete!) Information gegeben „Kinder unter 3 Jahren würden fast nie einen Pflegegrad erhalten“. Wer Jutta Königs Buch gelesen hat, weiß dass dieser Satz im früheren System zwar richtig war, für das neue Begutachtungsinstrument jedoch absolut falsch ist.
Es ist als Pflegeperson nützlich zu wissen worauf mein bei der Begutachtung und Bewertung besonders achten sollte. Und leider haben wir als pflegende Angehörige keine Heimleitung, keine Verwaltung, keine Fachabteilung hinter uns, die uns mit diesen Themen helfen würde. Es hilft nichts: Meist müssen wir uns selbst Kompetenz aneignen um die Arbeit der Gutachter gut vorbereiten, begleiten und beurteilen zu können. Es sei denn, wir haben das Glück einen kompetenten Pflegestützpunkt, eine kundige Pflegeberatung oder einen anderen Experten auf unserer Seite zu haben.
Fazit
Wer sich auf eigene Faust belesen möchte, ist mit diesem Büchlein gut beraten: Frau König gibt konkrete Tipps und Hinweise, wie Pflegekräfte und Pflegepersonen dazu beitragen können eine faire und objektive Begutachtungssituation zu schaffen. Sie zeigt auf welche Rechte der Einflussnahme wir haben (z.B. Tag und Uhrzeit der Begutachtung so zu legen, dass sie die Defizite des Begutachteten authentisch darstellen können) und erläutert anschaulich die Fachbegriffe wie „Abwehr“, „selbständig“ und natürlich „pflegebedürftig“.
Mein Kritikpunkt
Die Autorin kommt ganz offensichtlich aus der Arbeit mit beruflichen Pflegekräften. Beim Lesen spürt man deutlich: Als Leserin hat sie eine Heimleitung oder eine Pflegedienstleitung vor Augen. Vielleicht auch eine erfahrene Pflegekraft, die bei den Begutachtungen des Medizinischen Dienstes anwesend sein wird. Die häusliche Pflege und die Situation von Pflegepersonen wird nur am Rande in Nebensätzen erwähnt.
Als typische Situation wird generell das Heim gewählt um bestimmte Themen zu illustrieren. So wird der „auf dem Flur herumirrende Bewohner“, das „Medikamente stellen“ und ähnliches beschrieben. Manchmal werden Begriffe wie „Pflegedokumentation“, „PEG“, „suprapubischer Katheter“ oder „SIS“ verwendet ohne sie zu erläutern. Hierbei handelt es sich um Begriffe, die in der Pflege üblich sind oder von Betroffenen verstanden werden und die uns eigentlich nicht betreffen – man kann sie also getrost überlesen oder bei Bedarf googeln. Dennoch würde ich mir bei einer Neuauflage wünschen, dass der Bereich der häuslichen Pflege stärker in Blick genommen würde – immerhin werden gut 75% aller Pflegebedürftigen in Deutschland nicht in Heimen, sondern im häuslichen Umfeld gepflegt. Gerade für ihre Angehörigen ist ein Ratgeber in der Begutachtungssituation besonders wichtig.
Alles in allem bekommt das Buch von mir 4 von 5 Sternen. Für den fünften Stern fehlt mir einfach eine ausführlichere Berücksichtigung der Situation der Angehörigen-Pflege. Diesen Bereich hätte ich bei dem Titel und der Beschreibung des Buches erwartet. Auch ein Glossar für Menschen, die keine Ausbildung im Bereich Pflege besitzen, wäre hilfreich.
Kaufempfehlung?
Auch wenn das Buch offensichtlich nicht pflegende Angehörige in Blick nimmt, so ist es dennoch auch für pflegende Angehörige interessant. Der Schreibstil ist verständlich, wenn man über gelegentliche Fachausdrücke oder eindeutig an Heim-Situationen orientierten Absätzen hinweg liest.
Aber: BRAUCHT man das Buch als pflegender Angehöriger? Jain.
Wer sich wirklich optimal vorbereiten möchte oder einen Widerspruch kompetent formulieren will, für den sind die 16,95 € gut investiertes Geld. Denn eigentlich SOLLTEN die Gutachter das Begutachtungsinstrument selbst gut kennen und fair und objektiv anwenden. Wenn das geschieht, ist die Lektüre des Büchleins von Jutta König überflüssig. Dennoch wissen wir, das es auch heute noch zu extrem hohen Fehlbeurteilungen kommt, was daran deutlich wird, dass im Widerspruchs- oder Klageverfahren der zunächst angenommene Pflegegrad doch nach oben korrigiert wird.
Aus der Praxis wissen wir, dass es oft nützlich ist, selbst genau Bescheid zu wissen, kompetente Antworten zu geben und gut vorbereitet zu sein, wenn man die Mühe eines Widerspruchs von vornherein meiden möchte. Allein um typische Fehler wie das Herausputzen des Hauses oder das Bestreben um ein Kind (oder einen Angehörigen), das (der) sich „von seiner besten Seite“ zeigt, zu vermeiden ist eine solide Vorbereitung unerlässlich.
Dieses Buch gehört aber sicherlich nicht zu denen, die man dauerhaft als Nachschlagewerk im Bücherregal stehen haben muss. (Es sei denn, man berät so wie ich häufiger pflegende Angehörige bei der Vorbereitung der Begutachtung oder der Gestaltung des Widerspruchs.).
Daher meine Empfehlung: Für Menschen, die hauptberuflich mit der Begutachtung von Pflegebedürftigen zu tun haben ist es ein Must-Have. Es gehört auch in das Bücherregal von Selbsthilfegruppen, öffentliche Bibliotheken, EUTBs oder anderen Einrichtungen der Behindertenhilfe. Für Pflegedienst-Leitungen ist dieses Buch ein solides Grundlagen- und Nachschlagewerk.
Pflegenden Angehörigen, die sich auf eine einmalige Begutachtung vorbereiten, empfehle ich aber dennoch das Buch auszuleihen oder das Geld zu investieren und das Buch anzuschaffen. Man kann es ja im Anschluss an die Begutachtung weiterverkaufen oder es an die Selbsthilfegruppe vor Ort spenden. Denn am Ende sind 16.95€ und etwas Lese-Zeit gut investiert, wenn man dadurch von Anfang an den richtigen Pflegegrad bekommt oder im Widerspruchs-Verfahren klar und eindeutig die Defizite der ersten Begutachtung aufzeigen kann.
Ich hoffe meine Rezension war für dich hilfreich und wünsche Dir alles Gute bei der nächsten Begutachtung!
Angaben zum rezensierten Buch:
Titel: 100 Fehler bei der Einstufung von Pflegebedürftigen und was Sie dagegen tun können
Autorin: Jutta König
Verlag: Brigitte Kunz Verlag
Version: aktualisierte Auflage März 2017
Du wünschst dir eine individuellere Beratung und Begleitung?
Wenn Du keine Zeit oder Lust hast, dich in die Materie einzuarbeiten oder dir das neue Begutachtungsinstrument trotzdem wie ein Buch mit 7 Siegeln erscheint: Gern unterstütze ich dich bei deinen Fragen und der individuellen Vorbereitung auf den Besuch des Medizinischen Dienstes.