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SHIT! Das Krisenkonzept

Scherben, Stress und Ungeplantes …
Das ganz normale Special-Life

SHIT! Ein Scheppern, ein Klirren aus der Küche. Das muss ein Glas gewesen sein! Sohnemann hat die Spülmaschine ausgeräumt. Und wo gehobelt wird, da fallen Späne. Dummerweise war der Hund in der Küche. Am anderen Ende der Küche. Und so verschreckt, dass er quer durch die Küche- durch tausend Scherben! – in die vermeintliche Sicherheit des Wohnzimmers flüchtete. 30 Minuten bevor Finja und ich im 22 Minuten entfernten Harpstedt zum Reiten sein wollen.

 Adrenalin pulst durch meine Adern. Was ist jetzt am wichtigsten?  „Alles Liegenlassen!“ rufe ich meinem Sohn zu! „Nimm den Hund und halte ihn, damit ich Pfoten kontrollieren kann!“ War da ein Splitter? Vermutlich nicht. Erste Erleichterung. 

In dem Moment fährt auch schon pünktlich der Bus von der Schule auf den Hof. Was jetzt? Eigentlich muss der Hund ins Auto – und vor allem gründlicher kontrolliert werden. Aber der Bus wartet und Finja muss zügig umgesetzt werden. Also parke ich den Hund im Wohnzimmer und hole Finja aus dem Bus – mit nasser Hose! SHIT!

Noch 25 Minuten bis wir beim Reiten sein müssen – egal! Mit nasser Hose geht garnix. Während der Hund im Wohnzimmer steht, wie bestellt und nicht abgeholt (nämlich schon zum Spazierengehen mit Brustgurt und Leine versehen), flitze ich mit Finja nach oben, werfe einen schellen Blick ins Büro meines Mannes und bedeute ihm nach seiner Videokonferenz rüberzukommen.

Ich beginne Finja umzuziehen, informiere meinen Mann über das Desaster, als er 3 Minuten später dazukommt. Noch 20 Minuten, bis wir in Harpstedt sein müssen. Mein Mann übernimmt. Ich gehe runter und kontrolliere nochmals die Hundepfoten, schnappe Helm, Trinkbecher und notwendiges Reitzubehör und bringe alles – auch den Hund – in den Wagen.

Mein Mann hat inzwischen Finja umgezogen. Aus der Küche höre ich den Staubsauger. Mein 13jähriger wuppt offenbar alles in der Küche. Kurz schaue ich rein und gebe Anweisung, dass die auf dem Boden stehenden Kartoffeln und die offene Tüte Hundetrockenfutter vollständig entsorgt werden müssen – die Splitter sind weit und hoch geflogen. „Alles klar!“ tönt es aus der Küche. Noch 18 Minuten bis zum Reiten.

Mein Mann setzt Finja ins Auto. Ich schnappe meine Handtasche. Schalte das Navi ein – denn ich weiß, dass mein Gehirn unter Zeitdruck möglicherweise eine falsche Abzweigung wählt. Noch 16 Minuten bis zum Reiten.

Kind im Auto. Hund im Auto. Küche wird geregelt. Hundepfoten sind gesichert. Ich halte inne. Mache eine kurze Atemübung. Erinnere mich daran, dass Reiten jede Woche wieder stattfindet und kein Pferd und keine Therapie der Welt einen Unfall aufgrund von Stress wert ist.

Ich fahre los. Nach 10 Minuten merke ich, dass ich gar nicht aufgehört habe Atemübungen zu machen. Boxatmung beim Autofahren. Es ist inzwischen so automatisiert, dass mein Körper unter Stress automatisch die Übung abruft. Prima! Ich beginne zu summen. Summen aktiviert alle Bereiche des Mund und Halsraums. Da läuft der Vagus-Nerv lang und der ist wichtig fürs parasympathische Nervensystem. Summen beruhigt. Hat mir gerade letzte Woche meine Trauma-Therapeutin erläutert und behauptet, dass ihre Lieblings-Großtante steinalt geworden ist, weil sie ihr Leben lang gesummt hat. Also summe ich. Es tut gut.

Mit 5minütiger Verspätung kommen wir schließlich beim Reiten an. Die Therapeutin ist ganz gelassen und freut sich, das wir da sind. Finja steigt souverän und ungerührt aufs Pferd. Doch noch alles fast ganz pünktlich hinbekommen!

Mein Hund schaut mich aus der Box fragend an: „Können wir los?“. Klar doch! Die Zeit nutzen wir doch immer für unseren Spaziergang. Aber heute tut sie mir ganz besonders gut. Die Bewegung baut die Restprodukte des Stresses ab, die noch in meinem Blut kreisen. Ich werde ruhiger.

Eine flotte Runde geht es durch den Wald. Und während sich so darüber nachdenke, dass selbst Katastrophenfälle inzwischen ziemlich routiniert und souverän bei uns ablaufen, frage ich mich, was sich eigentlich geändert hat.

Früher wäre ich mit Sicherheit nicht so zügig, klar und effizient gewesen. Ich hätte mich aufgeregt und noch Stunden später den Schreck und den Schock in den Knochen gehabt, mich über das kaputte Glas, die nasse Hose und unser Zuspätkommen geärgert. Und ich merke, dass ich inzwischen einer Routine folge und taufe sie kurzerhand „Das SHIT-Konzept“.

Was ist das SHIT-Konzept?
Eine Krisen-Routine

In Krisen laufe ich zur Hochform auf. Adrenalin wird in meinen Körper gepumpt. Ich treffe gute Entscheidungen und arbeite ziemlich effizient. Und hinterher gelingt es mir relativ rasch wieder zur Ruhe zu kommen und zum Alltag zurückzukehren. Aber: Wie mache ich das eigentlich?

Letztlich sind es 4 Schritte, die mich souverän auf akute Krisen reagieren lassen:  

S: Sichern
Mein unmittelbarer Fokus liegt auf dem Sichern der Situation und der Betroffenen. Ich bringe zunächst mich und dann andere in Sicherheit. So wie wir es ja auch aus dem Erste-Hilfe-Kurs kennen.

H: Hilfe holen oder Hilfe leisten
Als nächstes aktiviere ich mögliche Helfer. Ich habe mir abgewöhnt die Dinge allein regeln zu wollen. Bin bereit mir helfen zu lassen, ja – ich fordere Hilfe sogar ein. Wenn keine Helfer verfügbar sind, leiste ich selbst Hilfe.

Das kann auch bedeuten mich selbst zu verarzten – physisch oder mental. Danach habe ich früher dazu geneigt, die Zähne zusammenzubeißen und direkt weiterzumachen. Das tue ich nicht mehr. Wenn ich selbst betroffen bin, tue ich das Notwendigste selbst um die Situation zu stabilisieren – und denke dann nochmal nach, wer mich jetzt unterstützen könnte. 

I: Innehalten
Sobald die unmittelbare Krise geklärt ist, halte ich Inne. Mal brühe ich eine Tasse Tee auf und trinke sie in kleinen Schlucken – mit viel Zucker. Oder ich wähle eine Atemübung – z.B. die Boxatmung. Wunderbar funktioniert auch der 5-Sinne-Fokus. Dabei konzentriere ich mich auf 5 Dinge, die ich sehen, 4 Dinge die ich hören, 3 Dinge, die ich spüren, 2 Dinge, die ich riechen und einen Geschmack, den ich wahrnehmen kann.

Alle diese Übungen aus dem Stressmanagement sind hocheffektiv und sorgen dafür, dass der Neo-Cortex – der Bereich des Gehirns in dem Kreativität, Analyse- und Problemlösekompetenz zu Hause sind – wieder aktiviert wird. Unter Stress sich nämlich dieser energiezehrenden Bereich des Gehirns ab um alle Ressourcen für instinktive, schnelle und automatisierte Abläufe zur Verfügung zu stellen.

Eigentlich ein wunderbares Überlebensmodell – leider funktioniert das aber nur, wenn die Abläufe einer Krise entweder intuitiv richtig oder aber gründlich eingeprägt sind.

Indem wir Innehalten und den entstandenen Stress regulieren, gewinnen wir wieder Zugang zur „Vernunft“ – die nicht schnell, aber oftmals eben sinnvoller ist, als der Bereich der superschnellen intuitiv-instinktgesteuerten Reaktion.

T: Tagesplan überprüfen, anpassen, aufnehmen
Erst jetzt befasse ich mich mit dem Tagesplan. Was kann noch umgesetzt werden? Wo muss ich den Plan an die aktuelle Situation anpassen? Was könnte ich auch verschieben oder vereinfachen? Wo könnte ich delegieren und wen um Hilfe bitten. Erst dann nehme ich den Alltag wieder auf.

Das Besondere am SHIT –Konzept

„Ja – aber das machen doch alle so?“ mag sich der ein oder andere Denken. Braucht es dafür wirklich einen Plan? Ein Merk-Wort? Jain. Bei mir hat sich der Ablauf durch viele Jahre Achtsamkeits- und Stressmanagement-Training nach und nach entwickelt und eingeprägt.

Wie wir oben schon festgestellt haben, ist das Einprägen besonders wichtig. Da uns der Neo-Cortex in einer Gefahrensituation – und unser Gehirn interpretiert Zeitdruck oft als solche- dichtmacht, lohnt es sich, Muster einzuüben und einzuprägen, die im Krisenfall abgerufen werden können.

Das ist der Grund, warum Kampfsport und alle Rettungsberufe auf Wiederholung setzen: Trainieren, Wiederholen, Üben – bis die Dinge im Schlaf oder in der Krise automatisiert ablaufen. Nicht mehr über den Neo-Cortex mühsam gedacht werden müssen, sondern stattdessen intuitiv ablaufen – ohne Denken halt.

Das SHIT-Konzept setzt hier an. In einer akuten Krise möchte man eh fluchen – und wenn wir uns angewöhnen „SHIT!“ zu denken, sagen, brüllen – dann erinnert uns dieses automatisierte Verhalten an die 4 Phasen. Denn hier nutzen wir einen zweiten mächtigen Trick: Das Merkwort.

Warum das Merkwort SHIT??
Ja – gerade Menschen neigen in Krisen intuitiv zum „Sichern“ – dem ersten Schritt. Aber im Alltagsstress gehen viele von uns danach direkt zum „T“ – nämlich zur Tagesordnung über. Und zwar oft, ohne sie zu überprüfen und anzupassen. Quasi aus dem Stress heraus, überspringen wir die Punkte, die Denken erfordern – wenn wir sie nicht eingeübt haben. Nämlich Hilfe holen, Innehalten und vor allem: Die Tagesordnung überprüfen, ehe wir weitermachen. Sehen wir uns das genauer an: 

„Hilfe holen, annehmen, einfordern“ – das ist ein Schritt, den auch in erst nach und nach erlernen musste. Er ist aber superwichtig. Viele Situationen lassen sich retten oder besser bewältigen, wenn wir Helfer aktivieren. Und die meisten Menschen helfen gern.

Aber genauso viele Menschen bitten ungern um Hilfe. Doch in einer Akut-Situation kann man mit vereinten Kräften schneller reagieren, oft das Schlimmste abwenden. Und gemeinsam bewältigte Krisen verbinden. Wenn mein Sohn die Scherben in der Küche beseitigt und dafür sorgt, dass der Hund keine im Futter vorfindet, während ich mich um seine Schwester kümmere, dann stärkt das seine Problembewältigungskompetenz, seine Selbstbewusstsein und unsere Bindung. Wenn Freunde und Partner einander Helfen, stärkt das das gegenseitige Vertrauen und die Beziehung.

Und selbst Wildfremde profitieren laut Studien davon, wenn sie anderen helfen. Einander zu helfen macht glücklich, stärkt das Immunsystem und die Resilienz und vermutlich sogar die Lebenserwartung. 

Hilfe holen ist also eine gute Sache. Und doch fällt es vielen schwer. Das SHIT-Konzept erlaubt es uns explizit und hilft uns, nicht lang darüber zu grübeln, OB wir WIRKLICH Hilfe brauchen, sondern sie automatisiert zu suchen und anzunehmen.

Innehalten: Die Wenigsten von uns nehmen sich die Zeit wirklich Innezuhalten, wenn die Situation geklärt ist. Aber das ist wichtig, damit der Körper aus dem Kampf-und-Flucht-Modus zurückkehren und sich regenerieren kann.

Wer das „Innehalten“ überspringt, der bleibt nicht selten den ganzen Tag in einer latenten Spannung, fängt an die Kinder oder andere Menschen anzuschreien, sich selbst fertigzumachen oder durch Unaufmerksamkeit weitere Katastrophen anzuziehen. Eine Negativ-Spirale beginnt.

Innehalten bedeutet: Ich verarbeite die vergangene Situation und bereite mich auf das Kommende vor. Ich nutze eine Beruhigungs-Strategie (und da ist es egal für welche Du Dich entscheidest) und nehme mir kurz Zeit um wieder in meine Mitte zu finden. Von da aus fällt es leicht(er) gute Entscheidungen für den weiteren Verlauf des Tages zu treffen.

Abgesehen davon ist es sehr viel gesünder Stress sofort zu verarbeiten, als ihn den ganzen Tag oder gar die ganze Woche mitzuschleppen.

Tagesordnung überdenken und anpassen
Die meisten Menschen gehen sofort zur Tagesordnung über, ohne sie zu überprüfen und anzupassen. Das SHIT-Konzept lädt uns dazu ein, genau hinzuschauen: Kann und will ich wie geplant weitermachen? Oder macht das vielleicht gar keinen Sinn mehr? Möchte ich meine Tagesplanung verändern, brauche ich weiterführende Hilfe oder kann ich nach einer Atempause tatsächlich wieder loslegen?

Dieser Punkt ist mir in den letzten Jahren immer wichtiger geworden. Das SHIT-Konzept fragt ausdrücklich: Geht es Dir jetzt wirklich gut genug, um zur Tagesordnung überzugehen? Möchtest Du das? Gibt es Alternativen?

Und so habe ich schon des Öfteren meine Tagesordnung verändert, wenn eine Krise es erfordert hat, während ich früher einfach nicht aus dem Hamster-Rad aussteigen konnte, sondern einfach versucht habe schneller zu laufen um doch noch alles allein zu schaffen. Seitdem ich „SHIT!“ denke, passiert das nicht mehr.

Ob das SHIT-Konzept Dir hilft?
Ich weiß es nicht. Aber es ist eine gute Möglichkeit, sich an die Schritte zu erinnern, die für eine gute Krisenbewältigung und gesundes Stressmanagement hilfreich sind. Deswegen rufe ich jetzt im Falle von akuten Katastrophen beherzt „SHIT!“. Und wenn mich irgendwer rügt, dass man doch nicht fluchen solle, kann ich künftig lächelnd erklären, dass ich nicht fluche, sondern mich nur meine Krisen-Plan erinnere. In diesem Sinne lege ich auch Euch das SHIT-Konzept ans Herz! Berichtet doch mal von Euren „SHIT-Erlebnissen“. Ich bin gespannt von Euch zu hören!

2 Gedanken zu „SHIT! Das Krisenkonzept

  • Annika Berger

    Prinzipiell ein guter Ansatz den man sich sicher merken sollte.

    ich hätte noch einen Tipp: einfach mal in einer ruhigen Minute mit „was wäre, wenn…“ alle möglichen Worst-Case -Szenarien geistig durchgehen. dann kurz innehalten, gedanklich einen Schritt zurücktreten in die objektive Sicht eines Außenstehenden und sich fragen, ob es wirklich nötig ist, dass diese Person sich solchen Stress macht.

    im Beispiel: was ist dabei, wenn man zu spät zum Reitunterricht kommt? In der heutigen Zeit kann man doch auch per Telefon die Verspätung ankündigen und dann das nötigste erledigen. Im allerschlimmsten Fall muss der Unterricht ausfallen. Das ist ärgerlich, aber kein Grund für Stress.
    ich stelle mir auch gerne noch die Frage, was das Ergebnis wäre, wenn ich jetzt wie reagiere und ob dieses Ergebnis mich weiterbringt bzw mich besser fühlen lässt.

    Antwort
    • Marion Mahnke

      Hallo Annika,
      da sprichst Du etwas sehr Wichtiges an! Oft vergessen wir in Stress-Situationen die Prioritäten zu überprüfen.
      Das liegt daran, dass unter Stress der Bereich des Gehirns, der für kritisches Denken, Analyse und Kreativität zuständig ist, nicht verfügbar ist. Wir reagieren aus Instinkt, Gewohnheit oder das Gehirn spult das Programm ab, das wir als letztes gespeichert hatten.
      So kommt es dazu, dass wir in akuten Stress-Situationen oft nicht mehr reflektieren, ob der alte Plan noch angemessen ist.

      Wichtige Ergänzung Deinerseits! Danke dafür!

      Antwort

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