Gastbeiträge

Keine Angst vor der Sonde

Damokles-Schwert „Sonde“

Wenn eine ausreichende Nahrungsaufnahme bei behinderten Kindern nicht sichergestellt ist, steht die Frage im Raum, ob eine Sonde die geeignete Lösung ist. Viele Mütter haben Angst vor der Sonde:  Eine völlig andere Ernährungsweise, der Schlauch, das medizinische Drumrum – und vielleicht auch ein Gefühl des Versagens – das alles sorgt für Unbehagen, wenn eine Sonde das Kind ernähren soll. Ernährungsberaterin Yvonne Dinger – selbst Mutter eines Kindes mit Sonde – berichtet heute als Gastautorin aus ihrer Praxis über das Damokles-Schwert „Sonde“ und ob es wirklich das unrühmliche Ende eines Kampfes oder vielleicht auch der Beginn eines Weges zu neuer Lebensqualität ist …  

Sowohl in Seminaren als auch in Einzelberatungen treffe ich häufig auf Mamas, deren Kinder sich nicht regelgerecht entwickeln und die Probleme mit der Nahrungsaufnahme haben.

Mit allen Mitteln wird versucht, die Kinder irgendwie zum Essen zu bewegen, es werden Pülverchen eingerührt, es wird Trinknahrung verabreicht, weil die reguläre, orale Nahrungsaufnahme nicht ausreicht, damit die Kinder gedeihen und mit allen Nährstoffen versorgt sind.

Orale Aversionen können eben so Grund für die zu geringe Nahrungsaufnahme sein wie Schluckstörungen in verschiedener Ausprägung. Die Anlage einer Ernährungssonde wird in der Regel von den behandelnden Ärzten relativ rasch vorgeschlagen und als einzig mögliche Alternative propagiert. Sobald das Wort „Sonde“ einmal ausgesprochen wurde, hängt es wie ein Damokles-Schwert über der Familie. Vor allem die Mütter versuchen nun fast alles, um diese gefürchtete Sonde zu vermeiden.

Es wird noch mehr von den Pülverchen angerührt, noch mehr hochkalorische Trinknahrung angeboten, der Schuss geht jedoch häufig nach hinten los, weil genau diese Alternativen nicht alle Kinder wirklich vertragen. Verdauungsprobleme, Erbrechen, noch mehr Nahrungsverweigerung sind häufig das Ergebnis und eine Art Teufelskreis beginnt.

Nur zu gut erinnere ich mich noch an die Zeit, in der auch über uns dieses „Sonden-Schwert“ hing. Dunkel und unheilschwanger und ich war an so vielen Tagen so unendlich verzweifelt, wenn unsere Tochter mal wieder ihre Trinkmenge nicht geschafft hat, weil sie wegen zu vieler Anfälle oder eines Infekts zu schwach war, um ihre Flasche zu trinken, nicht fit genug, um die Nahrung über den Löffel in ausreichender Menge aufzunehmen. Die Koordination klappte einfach nicht und als wir auch noch beginnen mussten, Medikamente zu verabreichen, war der Löffel völlig passé. Vermutlich hat das arme Kind „Löffel“ mit „schmeckt schrecklich“ in Verbindung gebracht, weil niemand daran gedacht hat, dass es sinnvoller sein könnte, Medikamente beispielsweise über eine orale Spritze zu geben.

Als ich einsehen musste, dass es so nicht weiter gehen kann, weil meine Tochter möglicherweise nicht nur zu wenig Nahrung, sondern vor allem zu wenig Flüssigkeit bekommen würde, wenn es dauerhaft so bleibt, habe ich mich wie eine Versagerin gefühlt. Ich hatte das Gefühl es nicht geschafft zu haben, mein Kind anständig zu ernähren. Was für eine grauenvolle Mutter – so dachte ich damals.

Das ist natürlich Quatsch und heute weiß ich das, dennoch habe ich nach wie vor eine Art Hass-Liebe zur Sonde meiner Tochter. Der Babybauch meiner inzwischen Zwölfjährigen ist in meinen Augen verunstaltet durch diesen dauerhaften Schlauch im Bauch. Aber – und dieses Gefühl überwiegt inzwischen deutlich – ich bin sehr dankbar, dass wir die Sonde haben und wünsche allen betroffenen Eltern, dass sie das genau so empfinden können. Wenn ich dürfte, würde ich allen, die sich noch vom Sonden-Schwert bedroht fühlen, zurufen:

Keine Angst vor der Sonde!

Die Sonde hat uns eindeutig den Stress genommen. Essen steht nicht mehr im Vordergrund. Es hat unserer Tochter ohnehin selten Freude bereitet, sie vermisst also vermutlich nichts.

Die Sonde hat uns viele Krankenhausaufenthalte erspart, weil wir immer für ausreichend Flüssigkeit sorgen können, egal welcher Infekt mal wieder ums Eck schaut.

Unsere Tochter gedeiht, weil wir für die notwendige Kalorienzufuhr sorgen können, ohne dass wir sie zu irgendetwas zwingen müssen.

Aber natürlich ist eine Sonde wieder ein weiterer Schritt in Richtung „medizinisch“ und „nicht ganz normal“.

Dabei möchte ich auch hier so gerne die Angst nehmen, denn auch mit Sonde kann man sich ein Stück Normalität erarbeiten.

Nach wie vor sind auch für die Sonde Pülverchen und klassische Sondenkost Standard mit allem, was an „Nebenwirkungen“ dazu kommen kann. Eine Sonde braucht natürlich entsprechendes Zubehör, das kommt oft monatlich in großen Kartons und auch das fühlt sich „nicht ganz normal“ an.

Sowohl mit Sonde als auch vor Anlage einer Sonde kann ein Stück Normalität zurückgewonnen werden, wenn man auf Normalkost setzt statt klassischer Sondenkost. Die Vorteile liegen klar auf der Hand. Durch die enthaltenen, natürlichen Ballaststoffe ist der Verdauungstrakt ganz anders gefordert als mit der immer gleich zusammengesetzten Sondenkost. Verdauungsprobleme gehören bei Normalkost – egal ob als Trinknahrung oder über die Sonde – fast immer der Vergangenheit an. Die Kinder erbrechen wesentlich weniger bis gar nicht mehr und haben in der Regel bessere Blutwerte, weniger Hautprobleme. Viele Kinder werden auch deutlich aktiver und entwickeln sich besser.

Eine Frage bleibt dennoch für viele Familien:
Einmal Sonde – immer Sonde?

Gerade mit Normalkost stehen – je nach Grunderkrankung – die Chancen manchmal gar nicht schlecht, dass die Sonde kein lebenslanges „Zubehör“ sein wird. In vielen Fällen entwickeln die Kinder plötzlich ein Hungergefühl und zeigen Interesse am Essen. Sie möchten selbst einzelne Lebensmittel probieren, weil endlich dieses Unwohlsein der Vergangenheit angehört, vielfach durch Sondenkost ausgelöst.

Ich empfehle bei jeder Form von Problemen bei der oralen Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, den Kontakt zu einer fähigen Logopädiepraxis. Vor oraler Nahrungsaufnahme muss selbstverständlich abgeklärt sein, ob sicheres Schlucken überhaupt möglich ist. Wir haben zum Beispiel grünes Licht und so bekommt meine Tochter nach wie vor Kostproben, damit die Speichelbildung angeregt wird, was für die Zahngesundheit wichtig ist und damit sie auch mal einen anderen Geschmack im Mund hat.

Vielleicht dient die Sonde irgendwann nur dazu, zu geringe Flüssigkeit auszugleichen oder für die Medikamente? Jede Variante ist möglich. Mit Normalkost entsteht auch insgesamt wieder ein Stück weit Normalität. Die Eltern können selbst entscheiden, was das Kind isst, das Kind kann vom Tisch der Familie mitessen, halt nur durch den Bauch. In der Tat durfte ich auch schon selbst Familien begleiten, in denen das Kind dann irgendwann begonnen hat, sich wieder selbst oral zu ernähren. Das ist nicht die Regel, aber durchaus möglich.

Selbst wenn die Sonde, wie es bei uns der Fall ist, ein dauerhaftes Zubehörteil bleibt, ist mir in meinen Beratungen und Seminaren immer wichtig, dass die betroffenen Familien so viel Normalität wie möglich dadurch empfinden und nicht trotzdem. In erster Linie geht es uns darum, die Lebensqualität unserer Tochter so gut wie nur irgendwie möglich zu erhalten und das ist normalerweise das Ziel aller Eltern. Stressfreie Nahrungsaufnahme in guter Zusammensetzung können wir dank der Sonde sicherstellen. Mit guter Ernährung ist gute Entwicklung möglich. Wenn wir den Kampf aus der Esssituation nehmen können, steigt auch unsere eigene Lebensqualität wieder. Bei uns hat das gut funktioniert.

Als unsere Tochter noch Teile Ihrer Mahlzeiten trinken konnte, haben wir den Zeitpunkt des Aufsondierens mit „jetzt kommt der Lieferservice über den Bauch“ kommentiert. Das gab uns eine gewisse Leichtigkeit und sie konnte sich – vermutlich – darauf einstellen, dass die Anstrengung vorbei ist und der Bauch sich nun mehr oder weniger automatisch füllt. Während eines Krankenhausaufenthalts hatte eine Ärztin mal den Begriff „pegal“ erfunden, weil ihr so schnell kein Equivalent für „orale Gabe“ einfiel als Gegenteil zu einem Suppositorium. Der Begriff ist bei uns eingezogen. Humor ist wichtig.

Denn auch das möchte ich meinen Familien gerne auf den Weg geben: Es kann leicht sein. Und es kann einfach sein. Und Normalkost für die Sonde ist tatsächlich kein Hexenwerk sondern mehr so „back to the roots“. Ist ja ohnehin grad „in“, sich wieder auf Traditionen zu besinnen und Dinge zu tun wie früher.

Die Tage habe ich eine sehr schöne Aussage gehört, die ich an dieser Stelle gerne zitieren möchte: „Meine Schwiegermama hat eine Art Waffenstillstand mit ihrer Sonde geschlossen.“ Ich fand das großartig! Waffenstillstand bedeutet, dass das Damokles-Schwert nicht mehr schwebt. Und wenn es bei alldem doch etwas überwältigend wird und es irgendwo klemmt oder verstopft, dann bin ich gerne da, um bei der Ladehemmung zu helfen. Am Ende möchte ich, dass wir das Schwert in die Ecke stellen können und uns einfach darüber freuen, dass es unseren Kindern oder auch erwachsenen Angehörigen mit Sonde gut geht, dass wir gut für sie sorgen können, oral oder pegal, der Weg ist egal.
Das hat sich jetzt gereimt und was sich reimt ist gut, sagt der Pumuckl.

Im Idealfall erfolgt die gute Sorge mit der normalen Familienkost, aber ideal muss nicht immer. Gut ist, was funktioniert und eine Sonde funktioniert hervorragend als Hilfsmittel für die Ernährung. Dessen dürfen wir uns immer bewusst sein, so kann die Angst vor der Sonde abgelöst werden von der Freude darüber, dass wir selbst wieder aktiv etwas Gutes tun können.

Yvonne Dinger
von www.besonders-gesund.de

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