Mayday! Mit dem Notlandeprotokoll Abstürze verhüten
Mayday! Mit dem Notlandeprotokoll Abstürze verhüten
Stressbewältigung und Burn-Out-Prophylaxe für pflegende Eltern und Angehörige
„Wenn alles so weitergeht wie bisher – wo bist Du dann in 3 Wochen?“ frage ich meine Klientin, die um einen Notfall-Termin gebeten hat. „In der Klinik!“ antwortet sie – wie aus der Pistole geschossen.
Burn-Out, Stress-Erkrankungen, Depressionen, Dauer-Müdigkeit, Fressattacken oder Appetitlosigkeit – das alles ist nicht selten bei pflegenden Eltern. Aber wir sprechen kaum drüber. „Mir geht’s gut!“ behaupten wir, wenn wir gefragt werden. Um niemandem zur Last zu fallen, weil es andere ja noch schwerer haben oder einfach, weil wir selbst gar nicht mehr spüren, dass wir unter Dauer-Strom stehen.
„Geht doch anderen Eltern auch so!“ denken wir. Und das stimmt. Aber eben nur einige Jahre. Die harte Zeit in der die Kinder uns rund um die Uhr brauchen dauert normalerweise nur wenige Jahre. Die harte Zeit in der Senioren zu Hause durch Angehörige gepflegt werden auch.
Eltern behinderter Kinder sind 10, 20, 30 Jahre in der Verantwortung für ein Kind, das nicht die altersentsprechende Selbständigkeit entwickelt. Und klar: Für einige von uns sieht das mit Pflegegrad 5 ganz anders aus als für andere deren Kinder mit PG1 nur etwas mehr Unterstützung benötigen um sich gut zu entwickeln.
Wir wollen Normalität. Wir wollen nicht jammern. Und auch das ist gut so. „Akzeptieren was ist!“ – das ist einer der Schlüssel der seelischen Widerstandsfähigkeit. Aber bedeutet „Akzeptieren was ist“ tatsächlich, dass wir behaupten „Mir geht’s gut“, wenn es nicht stimmt? Bedeutet es nicht vielmehr auch, dass wir uns eingestehen, dass es eben nicht immer „gut geht“?
Denn der zweite Schlüssel der Resilienz lautet „Ändern, was man ändern kann“. Und darüber möchte ich heute reden. Denn um etwas zu ändern, ja – um überhaupt etwas ändern zu wollen!- müssen wir uns erstmal erlauben zu spüren, wie es uns wirklich geht!
Auch mir fällt das schwer. Denn man funktioniert einfach besser, wenn man gar nicht erst nachfühlt wie es einem wirklich geht. Wenn wir sowieso nichts daran ändern können, wozu dann der Müdigkeit nachgeben, die Trauer spüren, die Erschöpfung ernst nehmen?
Wir machen weiter bis wir nicht mehr können und blenden die Warnzeichen aus. Bis unser Körper streikt. Und dann – dann ist es oft zu spät.
Denn „Burn-Out“, das bedeutet, dass die Energiereserven nicht nur erschöpft sind, sondern dass unser Körper die Fähigkeit verloren hat die Akkus aufzuladen. Und deswegen finde ich es so wichtig, dass wir uns selbst ernst nehmen und zumindest uns selbst eingestehen, dass dieses Leben als Eltern, pflegenden Eltern, pflegenden berufstätigen Eltern anstrengend ist.
Und zwar kein Sprint, sondern ein Marathon. Meine Klientin hat ihre Warnzeichen rechtzeitig wahr und ernstgenommen. „Wenn Du nun in 3 Wochen in einer Klinik bist – was würde denn dann passieren? Würden Deine Kinder Hungers sterben, niemand die Windeln wechseln und keinerlei Förderung passieren??“. „Nein, nein!“ wiegelte sie ab. „Dann käme meine Schwiegermutter bestimmt und würde ein paar Wochen helfen, mein Mann würde für 6 Wochen ins Home-Office gehen und Teilzeit anmelden, die Förderung würde ausfallen – oder vielleicht könnte die Paten-Tante die Kleine einfach einmal die Woche zur Physio fahren. Mein Mann würde vermutlich „Hello Fresh“ bestellen und die Kinder würden zu oft vor dem Tablet sitzen – aber das wäre dann eben so.“
„Wow!“ sage ich. „Da hast Du ja schon ein komplettes Notlande-Protokoll!“. Verwundert taucht sie aus ihren Überlegungen auf. „Wie meinst Du das?“. „Nun – wenn jetzt für Dich als Pilotin Eures Familien-Flugzeugs jetzt klar ist, dass es auf eine Bruchlandung hinausläuft, wenn Du nichts tust – dann kannst du auch frühzeitig die Reißleine ziehen und eine ordentliche Notlandung draus machen. Statt dass Deine Schwiegermutter in 3 Wochen in einer akuten Katastrophe übernehmen muss, weihst Du sie JETZT schon ein, dass der Tank leer ist und eine Katastrophe bevorsteht. Du machst Deinem Mann jetzt schon deutlich, dass er entweder in 3 Wochen akut übernehmen muss, weil du mit Blaulicht und Herzinfarkt in die Klinik unterwegs bist oder dass er JETZT eine Lösung mit seinem Arbeitgeber finden muss. Du bittest JETZT schon die Paten-Tante die Tour zur Physio zu übernehmen und hinterher mit dem Kind ein Eisessen zu gehen …“
In der folgenden Stunde haben wir eine Ressourcen-und Energie-Analyse gemacht: Welche Menschen oder Dienste könnten Entlastung bringen? Wen könnte man noch fragen? Was in Deinem Leben – ausserhalb der Kinder – zieht noch unnötig Energie ab? Was würdest Du mit Deiner freien Zeit tun – was schenkt Dir Kraft?
Meine Klientin beschloss eine Social-Media-Auszeit zu nehmen, organisierte den Familien-Alltag um und weihte ihr Umfeld ein. Und hat somit noch die „letzte Ausfahrt vorm Burn-Out“ genommen. 6 Wochen Auszeit und ein paar ehrliche Gespräche haben genügt, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen, die Akkus aufzuladen und zu verhindern, dass es zu einer echten Katastrophe kommt. Kurze Zeit schickte sie mir ein glückliches Selfie vom Flughafen – mit Koffern und Ehemann – ohne Kinder. Ihr Notruf hatte zu so viel Verständnis und Hilfe geführt, dass die beiden nochmal gemeinsam für ein paar Tage auftanken konnten.
Warum das ging? Weil sie einen Plan hatte. Ein Notlande-Protokoll. Und weil sie ihre Alarmzeichen kannte. Eine Notfall-Regelung kann man nicht erst im Notfall entwickeln. Denn im Notfall stehen wir bereits unter Stress und Stress schaltet die kreativen, analytischen Teile des Gehirns ab – um Energie zu sparen.
Was lernen wir daraus? Meine Klientin hatte keinen Plan – aber meine Telefonnummer. Sie kannte ihre persönlichen Warnzeichen. (Mehr dazu unter „Die Stressampel“). Es ist also wichtig zu wissen woran wir erkenne, dass ein Absturz bevorsteht und an wen wir konkret im Notfall unser „Mayday“ richten können. Überlege Dir also wer Dein „Tower“ ist. Das kann eine gute Freundin, Dein Partner, eine Therapeutin oder eben ein Coach sein. Diese Person sollte Dich gut kennen, Deine Situation ernst nehmen und bei Bedarf mit Dir einen Plan erarbeiten können, was jetzt zu tun ist – damit aus dem bevorstehenden Absturz eine koordinierte Notlandung werden kann.
Noch besser ist es, wenn ihr das „Notlande-Protokoll“ in guten Zeiten erarbeitet und diesen Plan für euer „späteres Ich“ notiert:
- Wer könnte die Kinder von der Einrichtung abholen?
- Wer könnte Essen kochen? Kommen Lieferdienste in Frage?
- Wer kann mich für ein paar Tage oder Wochen ersetzen?
- Welche Tätigkeiten (Social Media, Ehrenamt) ziehen unnötig Kraft und müssen in schwierigen Zeiten ausgesetzt werden?
- Wäre eine Therapiepause sinnvoll oder bringt jemand anderes das Kind hin?
- Was würde mir noch Freiraum schaffen?
In Berufen mit viel Verantwortung ist es normal Protokolle für Notfälle zu entwickeln und einzuüben. Und frühzeitig zu aktivieren. Pflegeperson zu sein ist eine dieser herausfordernden Tätigkeiten mit viel Verantwortung.
Aber was, wenn da wirklich niemand ist? Wenn bei der Ressourcen-Analyse deutlich wird, dass Euch niemand privat unterstützen kann? Das ist selten der Fall. Denkt nochmal nach – denn in einer Krise springen oft Leute ein, die wir nur im äußersten Notfall fragen würden. Lasst sie uns vorher fragen! Und lasst uns ehrlich sein, wenn es heißt: Wie geht’s?
Hilfe zu erbitten ist nicht leicht. Aber Menschen können nicht helfen, wenn wir nicht fragen und es nicht zulassen. Und wenn die Analyse wirklich ergibt, dass da niemand ist, der helfen kann – dann ist es umso wichtiger ein Notlande-Protokoll zu haben.
Dann ist es gut zu recherchieren welche Unterbringungsmöglichkeiten gäbe es. Dann können wir darüber nachdenken, ob wir mal die Kurzzeitpflege ausprobieren wollen, um den Ernstfall einfach schonmal zu proben, ehe es nötig ist. Dann kann das Notlande-Protokoll eine Liste von Einrichtungen und Telefonnummern beinhalten. Oder ergeben, dass wir wirklich mehr professionelle Assistenz durch die Eingliederungshilfe erkämpfen sollten.
Aber wenn wir es nun geschafft haben, uns Zeit zum Erholen, Heilen, Regenerieren zu verschaffen – was machen wir dann damit?? Wie laden wir denn die Akkus nun wieder auf? Darüber sprechen wir nächstes Mal!
Nun bin ich aber erstmal gespannt: Hast Du schon ein Notlande-Protokoll? Kennst Du Deine Warnzeichen für den Absturz und weißt an wen Du Dich wenden würdest? Oder hast Du heute erstmals darüber nachgedacht? Ich bin gespannt auf Eure Rückmeldungen!
Hinweis: Wenn Du befürchtest, bereits Depressionen entwickelt zu haben, morgens nicht mehr aufstehst, anfängst zu heulen nur weil Du Joghurt verschüttest oder anfängst wegen Nichtigkeiten Aggressionen zu spüren, dann wende Dich bitte an den/die Ärztin oder eine/n Psychotherapeutin. Anonym und kostenfrei ist die Telefonseelsorge per Telefon, Mail oder Chat rund um die Uhr für Dich da.
Zur Vorbeugung und in akuten Fällen empfehle ich gern den „Krisenkompass“ – eine App, die die kostenfrei von der Telefonseelsorge bereitgestellt wird und im App-Store/Google-Play-Store runtergeladen werden kann. Sie dient quasi als „Notfallkoffer für die Hosentasche“ Mehr Infos dazu findet ihr hier: https://www.telefonseelsorge.de/krisenkompass/
Eure
Marion Mahnke