Die Inklusion ist nicht gescheitert!
Die Inklusion ist nicht gescheitert!
Warum unsere Gesellschaft auf Inklusion nicht verzichten kann …
Inklusion sei gescheitert – das hört man heute allerorten. Ich sage: Nein! Die Inklusion ist nicht gescheitert. Denn Inklusion KANN NICHT scheitern. Ebenso wenig wie Liebe, Würde oder Freiheit „scheitern“ können. Es sind Menschen, die scheitern. Vielleicht Institutionen. Womöglich Ansprüche.
„Die Inklusion ist gescheitert“ – dieser Satz macht ein Prinzip verantwortlich für das Versagen von Menschen. Als ob „die Inklusion“ eine Politikerin wäre, die eine unerhörte Idee hatte und damit nicht durchkam.
So ist es nicht. Würde, Freiheit, Menschenrechte – und dazu gehört die Inklusion! – können nicht „scheitern“. Sie können auch nicht „teilweise erfüllt“ werden. Es handelt sich hier um Werte, die absolut und unteilbar sind.
Inklusion bedeutet, dass jeder Mensch die Möglichkeit zur Teilhabe hat. Nicht mehr und nicht weniger. Inklusion betrifft somit alle: Gendergerechtigkeit braucht Inklusion. Eine Willkommenskultur für Menschen, die flüchten mussten, braucht Inklusion.
Gleichstellung Behinderter braucht Inklusion. Vor allem aber: Unsere Gesellschaft braucht Inklusion!
Warum? Neben den Berichten darüber, dass Inklusion gescheitert sei, hören wir zunehmend aus Lehrerzimmern, dass Deutschland ein ganz anderes Problem habe: Es fehle der Jugend an Anstand, Respekt und wertschätzendem Umgang.
Neulich bekam mein Drittklässler einen Zettel mit, auf dem die Eltern aufgefordert wurden, mit ihren Kindern über diese Dinge zu sprechen. Bei Ausflügen sei aufgefallen, dass einige Kinder grundlegende Regeln der Höflichkeit vermissen ließen.
Kein Wunder! Unsere Kinder wachsen in einer Gesellschaft der Ausgrenzung auf. Eine Gesellschaft, die sich nicht schämt, ein Menschenrecht zu verletzen! Eine Gesellschaft, die auf der einen Seite die Behindertenrechtskonvention ratifiziert und Inklusion als Menschenrecht anerkennt – dieses aber gleichzeitig als nachrangig, verhandelbar oder diskussionswürdig behandelt.
Inklusion ist nicht verhandelbar. Ebenso wenig wie Würde und Freiheit – und das Recht auf Bildung!
Was gescheitert ist, ist ein Schulsystem. Und es musste scheitern, weil das Projekt Bildung für alle verfügbar zu machen, unterfinanziert ist. Weil die Werte und Lerninhalte einer modernen Zeit innerhalb eines veralteten Systems umgesetzt
werden sollen, das laut modernen Lerntheorien dafür gar nicht geeignet ist. Weil unsere Regierung und Ministerien die Tugenden vermissen lassen, die unseren Kindern laut Schulgesetz vermittelt werden sollen.
Schauen wir uns beispielhaft das niedersächsische Schulgesetz an! Es formuliert als Bildungsauftrag, die Schülerinnen und Schüler sollen „fähig werden die Grundrechte für sich und jeden anderen wirksam werden zu lassen.“ – Wie sollen wir unseren Schülerinnen und Schülern erklären, dass die Grundrechte für alle gelten, wenn wir auf der anderen Seite behaupten, es sei nicht genug Geld da um das Grundrecht auf Teilhabe für ihre Altersgenossen zu verwirklichen?
„Unsere Heranwachsenden sollen „fähig werden (…) die Beziehung zu anderen Menschen nach den Grundsätzen der Gerechtigkeit, der Solidarität und der Toleranz (…) zu gestalten“. – Wie soll das gehen, wenn die Solidarität der Politik und Verwaltungen nicht allen Schulpflichtigen gilt? Wenn Gerechtigkeit und Toleranz nur den „normalen“ Menschen zuteil wird?
„Die Schule soll (…) die Persönlichkeit der Schülerinnen und Schüler auf der Grundlage des
Christentums, des europäischen Humanismus und der Ideen der liberalen, demokratischen
und sozialen Freiheitsbewegungen weiterentwickeln.“ Sorry mal – solange erwachsene
Menschen in diesem Land nicht nach allen Kräften für diese Werte einstehen, können
wir von Lehrkräften nicht erwarten, dass ihnen die Erfüllung dieses Bildungsauftrags
gelingt.
Denn: „Die Schule soll Lehrkräften sowie Schülerinnen und Schülern den Erfahrungsraum und die Gestaltungsfreiheit bieten, die zur Erfüllung des Bildungsauftrags erforderlich sind.“ Und genau das passiert nicht! Die Politik hat hier versagt. Unsere Gesellschaft hat versagt. Das dürfen wir mal ehrlich so sagen. Aber wir können nicht behaupten, die Inklusion habe versagt.
Ebenso wenig wie man behaupten kann, die „Würde“ hätte versagt, wenn unsere Alten in unterfinanzierten Heimen vernachlässigt werden. WIR haben versagt. Nicht die Kinder. Nicht die Behinderten. Nicht die Inklusion.
Denn wenn unsere Politik als Bildungsauftrag ausgibt, die Schülerinnen und Schüler sollten lernen, „sich umfassend zu informieren und die Informationen kritisch zu nutzen“, dann müssen wir Erwachsenen das vorleben. Wer aber behauptet, die Inklusion habe versagt und damit meint, dass es nicht funktioniert alle Kinder in Regelschulen aufzunehmen, der hat sich nicht informiert. Zumindest nicht umfassend.
Inklusion meint, dass die Gesellschaft so gestaltet wird, dass alle Menschen teilhaben können. Inklusion meint nicht, dass Menschen, die von der Norm abweichen, in das bestehende System gepresst werden.
Schule und Gesellschaft müssen als Lern- und Lebensräume für alle gestaltet werden. Kompromisslos. Und das bedeutet: Wer von Inklusion spricht muss akzeptieren, dass somit die bisherige Version einer Regelschule dafür nicht taugt.
Eine „Schule für alle“ ist eben nicht identisch mit einer Regelschule in der ein bisschen Platz für die Schülerinnen und Schüler mit besonderen Herausforderungen geschaffen wird.
Es wird nicht reichen, dass die „normalen Schüler“ ein bisschen zusammen rutschen, damit wir auch noch die Gleichaltrigen hineinquetschen können, die bisher eine gesonderte Beschulung erhalten haben. Nicht die Inklusion hat versagt – die Regelschule hat versagt!
„Inklusion“ ist ein Grundwert. Nicht nur im Schulgesetz, sondern auch in unserem Grundgesetz verankert. Artikel 1 postuliert, die Würde des Menschen sei unantastbar. Sie zu achten und zu schützen sei Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Unsere
Schülerinnen und Schüler, unsere Lehrerinnen und Lehrer haben somit das Recht, dass Schule als würdevoller Lern- und Lebensraum gestaltet wird!
Artikel 2 formuliert das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit. Das kann nur gelingen, wenn wir jene Bürgerinnen und Bürger, die durch die Schulpflicht täglich zum Aufenthalt in einer staatlichen Einrichtung verpflichtet sind, auch diesen Frei- und
Gestaltungsraum geben!
Unsere Kinder erfüllen eine Bürgerpflicht mit dem Schulbesuch – haben wir dann nicht auch die Verantwortung, sie dabei ideell und materiell zu unterstützen? Müssen wir Erwachsenen in Politik, Verwaltung und Bildungwesen es nicht als unsere vornehmste Aufgabe betrachten, allen Kindern eine angemessene, würdevolle, gleichberechtigte Schule anzubieten? Denn Artikel 3 sagt uns, dass niemand wegen seiner Behinderung benachteiligt werden darf. Und somit ist die Aussonderung, die wir jetzt praktizieren oder die Unterteilung in „inkludierbare“ und „nicht inkludierbare“ Behinderte einfach nicht gesetzeskonform.
Ja – Inklusion ist eine Herausforderung. Ja – Inklusion ist nicht billig zu haben. Aber ich sagen: Sie würde sich lohnen! Denn die „Regelschule“ hat versagt.
Grundwerte können nicht durch Vorlesungen gelehrt oder in Tests abgefragt werden – sie müssen vorgelebt und erfahren werden. Ebenso wenig wie wir „Schwimmen“ in der Theorie vermitteln können, sind Anstand, Respekt, Wertschätzung und echte
Gerechtigkeit durch Lesen und Diskutieren lehrbar.
Ich werde oft gefragt, wie es mir gelungen sei meine älteste Tochter und meinen Sohn zu so sozial kompetenten, verantwortlichen, selbstbewussten Menschen zu erziehen. Und ich muss zugeben: Das habe nicht ich getan! Meine mittlere Tochter mit Down-Syndrom und Autismus hat ihnen das vermittelt.
Empathie, Respekt, Wertschätzung – das ist eine Grundhaltung, die ich meinen Kindern vorgelebt habe. Mit meiner Entscheidung für ein inklusives Familien-Leben, das niemanden ausschließt. Mit meiner Entscheidung gegen eine Diagnostik, die ein Wesen aufgrund seiner körperlichen Voraussetzungen vom Leben ausschließt. Mit meiner Entscheidung, dass geliebt wird, wer kommt.
Und DAS, lieber Leser, wirkt. In Familien, Einrichtungen und Schulen, die wirklich Inklusion leben, zeigt sich, dass alle etwas davon haben. Wir müssen als Lehrkräfte zu unseren Werten und Überzeugungen zurückfinden. Wir müssen als Politikerinnen und Politiker wieder Prioritäten setzen, die den Grundlagen unserer Gesetzgebung entsprechen. Und wir müssen als Bürgerinnen und Bürger dafür kämpfen, dass die notwendigen Voraussetzungen geschaffen werden um Inklusion zu leben.
Wenn wir etwas für die Schülerinnen und Schüler der Regelschulen tun möchten und unserem Bildungsanspruch gerecht werden wollen, dann brauchen wir Inklusion. Wenn wir unsere jungen Menschen, die eines Tages die Geschicke unseres Landes bestimmen werden, zu empathischen, anständigen und wertschätzenden Erwachsenen erziehen wollen, dann dürfen wir Menschen nicht wegen ihrer Bedürfnisse aussondern.
Zusammenleben lernt man nur durch Zusammenleben. Wertschätzung und Respekt lernt man nur von Vorbildern.
Lasst uns echte Vorbilder sein! Lasst uns die richtigen Prioritäten setzen! Inklusion setzt ein neues Denken voraus. Inklusion setzt eine neue Art von Schule voraus. Und die – davon bin ich überzeugt – wird all unseren Kindern gut tun. Denn eine wirklich inklusive Schule wird die Bedürfnisse aller Schulpflichtigen und Lehrenden berücksichtigen: Jener mit Behinderung, Hochbegabung, Trauma-Erfahrung oder sonstigen spezifischen Bedürfnissen – und ebenso die der absolut durchschnittlichen
Normalbegabten.
DAFÜR werde ich kämpfen. Weil ich Inklusion nicht nur für meine behinderte Tochter einfordere, sondern mir auch von Herzen für meine normal entwickelten Kinder wünsche. Weil ich in einer inklusiven Gesellschaft leben will, die unseren Grundwerten wirklich gerecht wird. Und wer wollte das nicht? Also lasst uns endlich die richtigen Konsequenzen aus unseren Idealen ziehen und die richtigen Prioritäten setzen. Für ALLE Kinder. Für eine menschenwürdige Gesellschaft. Für eine Zukunft in der es sich zu leben lohnt.